Das Erwachen der Kundalini

Im Juni 1989, in meinem 34-sten Lebensjahr kam ich nach einer anstrengenden Arbeitswoche nach Hause, legte mich erschöpft ins Bett und fühlte dann einen Energiestoß, der mein Nervensystem und alle meine Sinne völlig durcheinander brachte. Von diesem Moment an konnte ich für lange Zeit nicht mehr richtig sehen, hören, konnte mich nicht mehr konzentrieren, nicht mehr richtig gehen und war hochempfindlich auf alle äußeren Einflüsse.

Ich hatte keine Ahnung, was mit mir geschehen war und wusste zum Glück auch nicht, dass dieser Zustand sich über Jahre kaum verbessern würde.

An Arbeit war nicht mehr zu denken. Während den folgenden Monaten verbrachte ich meine Tage vor allem im Bett und ich schaffte es knapp, mir im Quartierladen Essen einzukaufen. Die Ärzte konnten keine Ursache finden und ein Psychiater attestierte mir eine Überlastungsdepression und schrieb mich zu 100% arbeitsunfähig. Ich war eigentlich – zu meiner eigenen Verwunderung – kaum deprimiert, war aber natürlich froh um die finanzielle Lösung.

Gespräche führen konnte ich nur für wenige Minuten, da ich es kaum fertig brachte, die Worte die mir entgegenkamen zu einem Satz – geschweige denn zu einem Sinn – zusammen zu setzen. Mein Sehen war eingeschränkt, da mein ganzes Blickfeld bei jedem Herzschlag zerriss und zusammenzuckte.

Inzwischen weiß ich, dass mir meine geballte Lebensenergie bei jedem Herzschlag aus dem Becken ins Gehirn schoss und dass darum alle diese Störungen auftraten. Das war auch der Grund für die starken hämmernden Kopfschmerzen die mich jahrelang plagten.

Damals hatte ich weder von Spiritualität, Meditation, noch von den alten Weisheiten über die sogenannte Kundalini-Energie etwas gehört. Es begann eine verzweifelte Odyssee durch die Landschaft westlicher Ärzte, was aber über Jahre kaum Fortschritte brachte. Psychopharmaka, Psychotherapie und verschiedenste Untersuchungen führten zu keinerlei Resultaten. Eine bescheidene Verbesserung brachte nach zwei Jahren das Herausnehmen aller Amalgam-Füllungen.

Aber nach 2 Jahren war ich immer noch kaum arbeits- und lebensfähig. Ich lernte zwar viel über mich selbst, aber es waren keine wesentlichen Fortschritte zu verzeichnen. Mit letzter Kraft und der enormen Hilfe meiner damaligen Freundin reiste ich nach Indien, wo mir in Poona erstmals ein Yogi erklären konnte, was ich eigentlich habe. Ich begann mich mit Meditation und den Weisheiten über Energieflüsse im Körper zu befassen. Ich besuchte verschiedene Ashrams und Lehrer und habe in diesen Jahren aus der Not geboren viel Wissen über Kundalini-Prozesse ansammeln können, welches ich jeweils direkt und mit größter Hingabe umzusetzen versuchte.

Der erste Meilenstein

Die Begegnung mit diesem Yogi im Ashram von Osho in Poona war der erste Meilenstein in meinem Prozess. Er hatte nur wenige Worte von mir gehört und erklärte mir spontan, dass das Ganze aus spiritueller Sicht ein Riesengeschenk sei und ich mich eigentlich als gesegnetes Wesen betrachten sollte. Seine Worte “You are blessed” werde ich nie vergessen, weil sie die ganze bisherige Sicht meines Prozesses als Krankheit und Störung völlig auf den Kopf stellten.

Er berichtete, dass er viele Menschen kenne welche jahrelang durch Meditation oder Yoga versuchten, diese Energie auf kontrollierte Art zu erwecken und zum Teil lange erfolglos sind. Ich hingegen könne mir alle diese Bemühungen sparen und müsse nur noch lernen die Energie zu sammeln und zu trans- formieren. Er gab mir einige Tipps und vor allem das Vertrauen, dass in mir eigentlich etwas Positives geschieht. Er zeigte mir, wie ich einen inneren Dialog mit dieser Kraft aufnehmen kann.

Die Aufgabe dieser Kraft, welche in Indien Kundalini-Kraft (Schlangen-Kraft) genannt  wird, ist es zu erwachen und aufzusteigen. Bis dahin liegt sie schlummernd aufgerollt im Hara (Becken). Eigentlich tat meine Schlange genau das, wozu sie beauftragt war und es war meine Aufgabe ihr klarzumachen wie sie das tun muss. Alle meine Bemühungen, diese Kraft wieder zur Ruhe zu bringen mussten scheitern, da die Schlange sich unerbittlich durch alle Blockaden durchzubohren versuchte, was ihr auch immer wieder gut gelang.

Der Yogi erklärte mir, dass die Schlangenkraft selbst nicht weiß, dass sie während des Aufsteigens abgekühlt und in Liebe und Licht umgewandelt werden muss. Sie ist von ihrer primären Natur her Feuerkraft und führt, wenn sie ohne Transformation bis ins Gehirn steigt zu den massivsten Störungen – wie ich sie über viele Jahre erleben musste – was als unfreiwillige oder unkontrollierte Kundalini-Auslösung bezeichnet wird.

Taoismus

Nach dieser Kehrtwende habe ich viel durch den Taoismus gelernt. Dort sind viele Übungen zu finden, wie diese Kraft vom Wurzelchakra her der Wirbelsäule entlang über den Kopf und von vorne kommend ins Herz gelangt und auf diesem Wege abgekühlt und transformiert wird. Auch bei den meisten Yoga-Schulen steigt die Energie durch oder um die Wirbelsäule hinauf. Mich verwirrte daher weiterhin, dass bei mir die Kraft deutlich etwas vor der Wirbelsäule hochstieg und direkt ins Herz und ins Gehirn gelangte, manchmal mit erheblichen Schmerzen.

Ich konnte sie zwar teilweise weiter nach hinten leiten, dann verlor aber sofort auch die spirituelle Dimension dieser Kraft an Wirkung, indem der Zugang zum Nicht-Begrifflichen und Transzendenten sich wieder verschloss. Erst später entdeckte ich, dass auch im Taoismus nur der zentrale Kanal (Chong Mo) zum spirituellen Erwachen führen kann. Der Weg der Wirbelsäule entlang (Du Mo) führt zu einer deutlichen Verbesserung körperlicher und geistiger Konstitution und dient zur Vorbereitung auf das spirituelle Erwachen.

Vajrayana Buddhismus

Der zweite Meilenstein in meinem Prozess war, als ich meinen Herz-Guru, den tibetischen Mönch Geshe Kelsang Gyatso treffen durfte. Durch ihn wurde ich in das höchste Yoga-Tantra im tibetischen Buddhismus eingeweiht. Es handelt sich um den sogenannten Weg des Vajrayana innerhalb des Mahayana Buddhismus.

Dort wird die Kundalini-Energie in ihrer subtileren Form (genannt Tummo-Feuer) ohne Umwege direkt ins Herz geleitet und dort gesammelt, um die Ursprungsverblendung – das Klammern an der Illusion eines getrennten Ichs – zu transformieren.

Dies ist der direkteste Weg mit dem weitestgehenden Ziel der vollständigen Erleuchtung. Es bedarf aber einer unbeirrten Hingabe, viel Mut und einer reinen, möglichst direkten Führung, denn die gesamte dem Menschen verfügbare Lebensenergie geht ohne Umwege in den zentralen Kanal und dort in die Mitte des inneren Herzens und wird dort transformiert. Dies führt dazu, dass der Lichtkörper realisiert wird ohne dabei den materiellen Körper verlassen zu müssen. Dies kommt mit der Vajrayana-Motivation überein, die Erleuchtung in diesem Leben zu erlangen um anschließend zur Unterstützung anderer zu arbeiten.

Leerheit

Eine unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen dieses Prozesses ist eine Realisierung der Leerheit, womit das direkte Erkennen der selbstlosen Natur aller Phänomene gemeint ist. Die Erkenntnis der Leerheit des eigenen Körpers führt dazu, dass der Prozess im Lichtkörper stattfindet und so ohne Schaden für den physischen Körper abläuft. Mit dem Kennenlernen und Vertiefen der Leerheit schloss sich für mich auch der Kreis in meiner eigenen Biographie, welcher den ungewollten plötzlichen Ausbruch der Kundalini-Energie erklärt. Ich hatte als Kind starke aber angstvolle Leerheitserlebnisse, für die mir meine Eltern in den akuten Zeiten über Jahre hinweg Valium gaben. In diesen traumatischen Erlebnissen veränderte sich jeweils plötzlich meine Wahrnehmung so, dass ich alles als substanzlos, traumhaft, nicht wirklich empfand. Ich wurde dann aus Angst völlig hysterisch, weil ich mich total verloren fühlte. Meine Eltern hatten keine Ahnung, dass das einem spirituellen Erlebnis sehr nahe kam. Aus Unwissenheit habe ich dann während vielen Jahren immer wieder versucht, mit Sport, beruflichem Stress und Ähnlichem diese Erlebnisse zu unterdrücken. Es war mir nicht bewusst, dass ich vor etwas davon lief, was eigentlich sehr wertvoll war. Das Unterdrücken dieser Energie war aber seinerseits so anstrengend, dass es zum Zusammenbruch und als Folge zum unfreiwilligen und unkontrollierten Ausbruch dieser Energie führte.

Mysterium Tremendum

Der wohl wichtigste Grund, weshalb viele Menschen ihre Kundalini zu unterdrücken versuchen ist die Vorahnung ihrer gewaltigen Stärke und Durchschlagskraft. In der christlichen Mystik wird dieses Erlebnis deshalb auch Mysterium Tremendum genannt, das durchschaudernde Erlebnis des Grenzenlosen. Ohne Einbettung in grenzenloses Ver- trauen kann daraus leicht der sogenannte Horror Vacui (Panik vor dem Nichts) entstehen. Im tantrischen Buddhismus wird deshalb bewusst eine möglichst starke Glückseligkeit erzeugt, um sich auf diese Kraft einlassen zu können um so  durch die Verschmelzung von Glückseligkeit  und Leerheit zur letztendlichen Erkenntnis – der Erleuchtung – zu gelangen.

Stufen der Kundalini

Ein erstes Erwachen der Kundalini wird häufig als kleines Erwachen bezeichnet. Es bewirkt das Wiederfinden des eigenen zeitlosen Ursprungs jenseits aller Emotionen, Gedanken und Erinnerungen in sich selbst, so wie es mir geschehen ist. Dies bedeutet aber noch nicht die vollständige Erleuchtung. Erst wenn alle gespaltenen Erlebnisse in diesen Ursprung zurückgekehrt sind, und damit das Ego vollständig gestorben ist, kann von wirklicher Erleuchtung oder dem großen Erwachen gesprochen werden.  Erst dies ist ein dauerhafter Zustand der Einswerdung mit Gott (Unio Mystica). Die Kundalini entpuppt sich dann als schöpferische Urkraft (Shakti),  welche kein anderes Ziel hatte, als sich mit dem zeitlosen ewigen Bewusstsein (Shiva) zu vereinen.

Henk (2006)