Die spirituelle Depression

Matthias Dhammavaro Jordan

Buchauszug aus:
Ruheloser Geist trifft Achtsamkeit – Aus der Zeit in den Moment

 

 

“Trostlos sind alle Erscheinungen, und nicht lustvoll. Wie ein Schluck unfrischer Wahrheit.”

Die Ursachen depressiver Erkrankungen und Angststörungen sind sehr komplex und haben viele, oft nicht verstandene oder nachvollziehbare Ursachen. Ich möchte hier eine Form der Depression betrachten, die ich als spirituelle Depression bezeichnen möchte.
Meist in der dunklen Jahreszeit werden Menschen vom depressiven Erleben erfasst. Sie erleben eine Niedergeschlagenheit, die einen Rückzug von der Welt, von anderen Menschen, von sich selbst, ja, von allem Schönen zur Folge hat.
Begleitet ist dieser Zustand oft von Gedanken an eine düstere Zukunft. Ängste und Sorgen entstehen. Gedanken an die Vergangenheit sind oft gefärbt von Schuld und Reue.
Es entsteht das Gefühl, etwas versäumt zu haben und das Versäumte nie mehr nachholen zu können. Im Vergleich zu anderen Menschen fühlt sich der Depressive klein und unwert. Wenn die Kraft noch da ist, werden die Anderen beneidet. Sie fühlen sich nicht mehr fähig, in der gewohnten Form am Leben teilzuhaben. Ein Gefühl von Mangel und Verlust stellt sich ein, weil das ‚verloren‘ wurde, was das Leben einst lebenswert machte, nämlich die Freude am Leben und seinen Erscheinungen. Es gibt nichts Schönes mehr. Eine Rose ist dann zum Beispiel einfach nur eine Blume. Spaß und Freude bringende Aktivitäten verlieren ihren Wert und Reiz. Menschen möchte man sich nicht mehr zeigen, weil die Ebene der gewohnten Kommunikation und die Themen, die da besprochen werden, nicht mehr fühlbar sind. Sie interessieren einen einfach nicht mehr, und dafür schämt man sich.
Es kommt zum Rückzug. Der Verstand ist irritiert und möchte die Welt weiterhin in der „normalen“ Weise betrachten können. Doch alle Bemühungen, wieder in die sogenannte normale Sichtweise über die Welt zu gelangen, schlagen fehl. Menschen, die sich in diesem Zustand befinden, haben das Gefühl von Verlust. Es macht sich eine dunkle Wolke der Hoffnungslosigkeit und Ernüchterung in ihnen breit.
Der menschliche Verstand bekommt Angst im depressiven Erleben. Das gewohnte Bild, auf die Dinge des Lebens zu schauen, hat sich verändert. Die angenehmen Gefühle wollen sich nicht mehr einstellen. Manchmal stellen sich noch nicht einmal unangenehme Gefühle ein. Eine große, dunkle, weite Leere umhüllt sie.
Man betritt das „Dunkle Tal der Seele“.
Manche depressive Menschen berichteten später, dass sie in diesem Zustand einen zwar ernüchterten, aber realistischen Blick auf die Dinge hatten. Sie sahen die Welt in ihrer Nacktheit, ohne ihr etwas anzudichten. Weiterhin sahen sie wahrheitsgemäßer als sogenannte Normale.
Wahrheitsgemäßer in dem Sinne, dass sie das ehemals erlebte und gefühlte Schöne als ‚nicht-schön‘ erleben und somit die Dinge eher so sahen, wie sie sind.
Sie können diese Erfahrung aber nicht einordnen und nicht verstehen.
Bei genauerer, nüchterner‘ Betrachtung sehen wir: ‚Schön’ ist nur eine Zugabe und eine Interpretation des Erlebten, ‚hässlich’ auch; denn die Dinge sind einfach nur SO.
Ein Wort, das diese nüchterne Sichtweise beschreibt, lautet: Tathātā oder Soheit.

Das erste Mal kam ich mit dem Zustand der Ernüchterung 1998 deutlich in Kontakt. Zu dieser Zeit suchte ich einen Meditationslehrer in Sri Lanka auf, den Ehrenwerten Lokhuhamdru Pemasiri, der als einer der ‚letzten Dinosaurier‘ der Meditationsmeister bekannt war. Er akzeptierte mich als Schüler und lehrte mich das Meditationssystem von Vipassana.
Neben stundenlangen Meditationssitzungen unter seiner Anleitung und täglich zwei Interviews am Tag über meine Meditation, erläuterte er dieses Meditationssystem im Detail.
Ich hatte ein Zimmer im Internationalen Meditationszentrum in Colombo. Wenn ich aus dem Fenster schaute, sah ich diesen großen, schönen, wunderbaren Bodhibaum. Unter ihm wuchsen Blumen in schönen Farben, und all die exotischen Pflanzen ließen mich immer leicht in Verzückung geraten, wenn ich morgens aus dem Fenster schaute. Das Essen schmeckte immer sehr gut und man hatte die Wahl zwischen verschiedenen Speisen, die man in seine Essensschale legen konnte.
Es passierte an einem Morgen im Mai, nachdem ich schon zwei Monate auf diese intensive Weise meditierte. Ich schaute aus dem Fenster und begann ganz gewohnheitsmäßig diesen Baum und die schönen Blumen zu bewundern. Plötzlich bemerkte ich, dass ich die Schönheit nicht mehr in mir fühlen konnte. All die Worte wie schön, wunderbar und toll fühlte ich nicht mehr in mir, und sie waren total sinnentleert.
Nach der Morgenmeditation ging die Glocke, die alle Mönche zum Essen rief. Es war Sonntag, und an diesem Tag gab es immer ganz besonderes Essen und sogar Vanilleeis zum Nachtisch. Ich legte die Speisen in meine Schale und begann zu essen. Der erste Löffel, den ich in meinen Mund schob, war von einem inneren Erschrecken begleitet. Das Essen schmeckte nicht mehr gut und angenehm, sondern es fühlte sich an wie eine Masse klebriger Pappe, die ich jetzt im Mund zerkauen und runterschlucken musste. Ich schmeckte nur süß, sauer, salzig, scharf, saftig. Die Gefühle wie gut, angenehm, schmackhaft, lecker, die mich sonst begleiteten, wollten sich einfach nicht einstellen. Ich bemerkte aber das Feste, das weniger Feste, das Flüssige und Luftige an der Nahrung und es wurde deutlich, warum ich essen musste. Ich erkannte die Elemente der Nahrung in aller Nüchternheit und aß genau so viel, bis ich das Sättigungsgefühl erreicht hatte. Auch das Vanilleeis war nur eine klebrige, süße Masse, wovon ich nur einen Löffel nahm.
Ich schaute auf meine Mitmönche und sah nur Körper da sitzen.
Nach dem Mahl reinigte ich meine Schale und empfand beim Betrachten des mir so lieben Baumes, der Blumen und anderer Pflanzen und Menschen keine Gefühle.
Ich sah nur noch die Elemente, aus denen alles zusammengefügt war.
Mein Lehrer sah das und ließ mich zu sich rufen.
Er wollte wissen, was passierte, und nachdem ich es ihm mitgeteilt und er mir noch einige prüfende Fragen gestellte hatte, war er irgendwie zufrieden mit meinem Bericht und sagte nur: Nibbidanana, der Zustand der Ernüchterung.
Dieser Zustand der Ernüchterung hielt drei oder vier lange Tage an.
Ich hatte viel darüber gelesen, aber wie das mit ‚Kochbüchern‘ so ist: Es schmeckt immer anders, als es beschrieben wird. Ich erkannte, dass ich gerade die Symptome einer klassischen Depression erlebt hatte.
Aber dank der Anbindung an ein meditatives System, eine spirituelle Ausrichtung und einen weisen Lehrer konnte ich das Erlebte verstehen, einordnen und anerkennen.
Im Nachhinein konnte ich mich sogar voller Dankbarkeit darüber freuen, weil sich mir der Raum der Weisheit zeigte.

Depression, ein Schlüssel zur Weisheit?

Es gibt Freude und Glück in unserem Leben, aber sie sind gebunden an Ereignisse, deren Natur die Unbeständigkeit ist.
Gehen das Schöne und Angenehme, vergehen auch die Freude und das Glück.
Alle sinnlichen Gefühle, die wir erleben können, sind gebunden an Ereignisse, die entstehen, verweilen und wieder vergehen. Wir können nichts in unserem Leben stabil und sicher machen. Das ist eine Grundwahrheit unserer Existenz. Doch unser Bemühen ist meist auf Sicherheit und Stabilität ausgerichtet. Was tun wir nicht alles, um unser Leben schön und angenehm zu machen? Dagegen ist ja auch nichts einzuwenden.
Aber irgendwann kommen Krankheit, Tod und Verlust auch in mein Leben. Es gibt kein Wesen, das davon verschont bleibt.
Buddha rät nicht zu einer negativen Sicht auf die Welt, aber auch nicht zu einer positiven, sondern zu einer realistischen, angemessenen Sicht.
Der Verlust der gewohnten Sichtweise auf die Dinge des Lebens wird im Zustand der Depression als Mangel und Unfähigkeit erlebt und der Zustand der Ernüchterung als unangenehm und nicht lebenswert.
Wenn wir also auf die Dinge dieser Welt schauen, dann sind sie einfach nur wie sie sind.
Alle Attribute wie schön, hässlich, gut und schlecht sind unsere Interpretationen und Bewertungen, die wir diesen Dingen andichten.
Oder warum sind wir nicht alle gleicher Meinung und gleichen Geschmacks über irgendetwas?
Diese Erfahrung der Ernüchterung wird pathologisiert, ist aber nach buddhistischer Sicht ein Akt unserer inneren Weisheit, so ungewohnt es für den darin ungeübten Menschen auch sein mag und wie paradox es sich auch anhören mag.
‚Gedanken sind immer alt‘, sagt Krishnamurti, denn Gedanken schöpfen aus einem Fundus der erlebten Vergangenheit, und wir verknüpfen sie zu Gebilden und schaffen uns so eine Welt der Vorstellung und Interpretation. Und die können in alle Richtungen gehen, alle.
Das Geheimnis liegt im Jetzt und der Bezugnahme darauf; denn alle auf die Zukunft gerichteten Gedanken können einfach nur Geschichten gestalten und erfinden.
Ich glaube, dass eine uns innewohnende Instanz besonders im Herbst fühlt, dass es so etwas wie Unbeständigkeit, Wandel und Vergänglichkeit gibt.
Dann kommen Fragen nach dem Sinn. Und da das Gesetz der Unbeständigkeit immer am Wirken ist und uns alle Sicherheiten nimmt, entsteht Angst.
Menschen, die sich in einer sogenannten Depression befinden, fühlen sich krank und unwert, weil sie glauben, mit ihnen stimme etwas nicht.
Aber vielleicht öffnet sich da ein noch unbekannter Raum der Weisheit in ihnen, und der Unterstützung braucht, um sich weiter öffnen zu können!
Diese realistische, ernüchterte Sicht lädt dazu ein, zu schauen was IST, das heißt, in die Soheit der Dinge schauen.

Kontakt zum Autor: https://achtsamkeits-training.com/