Erfahrungsbericht einer Dualitätskrise

Die Krise

1993, ich war 42 Jahre alt, verlor ich in einem schamanischen Workshop, den ich selbst leitete, völlig den Bezug zur Realität und wurde in der Folgezeit von erschreckenden Halluzinationen geplagt, in denen ich in einer grausamen Zeremonie gefoltert und geschlachtet wurde, aber immer wieder „auferstand“ und das Grauen von vorn begann. Ich wurde immer paranoider und hatte auch immer wieder körperlich das Gefühl nur noch ein strukturloser Haufen Matsch zu sein. Gelegentlich hatte ich Anfälle, in denen meine Innereien wie durch einen Mixer gejagt zu werden schienen.

Meiner damaligen Freundin wurde langsam alles zu viel, und sie beschloss, sich für eine Weile in ein Kloster nach Bayern zurückzuziehen. Vor ihrer Abreise besuchten wir noch meinen Freund Andreas in Hamburg, in dessen Haus ich auch in völlig betrunkener Verfassung (ich bin ein Alkoholiker) noch Zustände von äußerster Lebensbedrohung durchlebte, was meine Freundin in ihrem Entschluss bestärkte, und sie fuhr von Hamburg direkt nach Bayern.

Jetzt lebte ich allein und musste irgendwie Geld für meinen Lebensunterhalt und die Miete aufbringen. Ich fand eine Stelle als Nachtportier in einem kleinen Hotel. Die Nächte überstand ich, indem ich mir abwechselnd Bier und Kaffee einflößte.

Im Sommer hatte ich fünfundzwanzig Kilo zugenommen und war körperlich und seelisch ein Wrack. Ich lebte in einem permanenten inneren Alarmzustand, der nur unterbrochen wurde, wenn ich nach der entsprechenden Menge Alkohol für eine Weile ohnmächtig wurde. Eines Abends im Herbst, ich hatte frei und brauchte nicht ins Hotel zu gehen, rief ich in völlig aufgelöstem Zustand Andreas an. Er war entsetzt über mein Befinden und sagte, dass ich sofort nach Hamburg kommen sollte, er würde mir inzwischen von seiner Ärztin eine Einweisung in die Psychiatrie besorgen.

Ich kaufte mir eine große Flasche Jägermeister und setzte mich in den Zug. Von dem Schnaps trank ich allerdings keinen Tropfen mehr und versuchte meine inneren Spannungen dadurch auszuhalten, dass ich pausenlos mit den Füßen aufstampfte.

Andreas holte mich vom Hauptbahnhof ab und fuhr direkt zum Klinikum Nord, der großen Psychiatrie im Hamburger Nordosten. Ich wurde zunächst mit Distraneurin vom Alkohol entzogen, außerdem diagnostizierten die Ärzte eine “paranoid-halluzinatorische Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis” bei mir und verordneten mir Tabletten, die meine überschäumende Phantasie beschwichtigen sollten.

Nach zwei Wochen wurde ich von der Aufnahmestation in ein anderes Haus verlegt, aber auch dort fand keine eigentliche Psychotherapie statt. Der Höhepunkt jeden Tages war die tägliche Visite, in der ich kurz mein Befinden schilderte und danach für den Rest des Tages frei hatte und tun und lassen konnte, was ich wollte. Ich musste mich nur vor jedem Ausgang im Stationszimmer abmelden und sollte möglichst zu den Mahlzeiten auf der Station anwesend sein.

Andreas wohnte ganz in der Nähe der Klinik, und ich hielt mich oft während des Tages in seinem Haus auf; denn er hatte mir einen Schlüssel gegeben, so dass ich kommen und gehen konnte wie ich wollte. Manchmal war er auch selbst zu Hause und wir unterhielten uns. Eines Tages erzählte er mir von einer Therapeutin, die ganz gut sein sollte und auch einen spirituellen Ansatz in ihrer Arbeit hätte, sie hieß Inga. Andreas besorgte mir ihre Telefonnummer, ich rief sie an und wir vereinbarten einen Termin für ein Erstgespräch.

Inga war ein ganzes Stück größer als ich und hatte in einem sehr positiven Sinne etwas Mütterliches an sich. Ich erzählte ihr, so gut ich konnte, von meinen Erlebnissen. Nachdem ich geendet hatte, sagte sie, dass sie glaube, dass ich nicht an einer Psychose leide, sondern eine spirituelle Krise durchmache.

Sie schickte mich zu einem spirituellen Lehrer, einem Meister aus der Sufi-Tradition und sagte, dass er die beste Adresse in dieser Hinsicht sei, die sie in Hamburg wüsste. Ich rief ihn an, und er meldete sich sehr freundlich. Wir vereinbarten einen Termin, zu dem ich zu ihm kommen sollte.

Herr Rishi, wie ich ihn nennen möchte, um seine Anonymität zu wahren, empfing mich in seinem Büro und stand auf, als ich das Zimmer betrat. Er war schlank, und hatte weißes Haar und einen weißen Bart. Sein Gesicht war erstaunlich jung und offen, und ich konnte unmöglich sein Alter erraten, obwohl er sicherlich nicht mehr der Jüngste war. Seine dunklen Augen waren unergründlich und strahlten eine warme, tiefe Liebe aus.

Ich setzte mich am Schreibtisch ihm gegenüber auf einen Stuhl, und er bat mich, zu erzählen, was mich zu ihm geführt hatte. „Ich glaube, dass ich es mir mit den Göttern verscherzt habe“, sagte ich. „Es gibt nur einen Gott“, antwortete er bestimmt und irgendwie erleichterte mich das etwas. Ich begann lang und breit meine grausigen Erlebnisse zu schildern.

Während ich sprach, wurde ich immer lebhafter und aufgedrehter. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ein beständiger Strom intensiver Energie in mein drittes Chakra einfloss. Schließlich hatte ich das Gefühl, gleich überzuschnappen und rief aus: „Genug, mehr ertrage ich nicht.“ Sofort verringerte sich der Energiestrom, und Herr Rishi sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen und Unschuldsmiene an.

„In mir ist jegliches Feuer erloschen“, sagte ich, „und ich bin innerlich nur noch ein Haufen Asche; deshalb vertrage ich keine Energiezufuhr mehr.“ „Ihr Licht ist noch nicht völlig erloschen“, sagte Herr Rishi, „da ist immer noch ein Funke vorhanden und den werden wir schüren.“ „Aber in mir ist überhaupt keine Energie mehr“, rief ich verzweifelt aus. „Ich gebe ihnen etwas von meiner Energie ab“ sagte er und fügte leise hinzu, „Ich nehme Sie als Schüler an.“ Zum ersten Mal, seit ich in dem schamanischen Workshop ausgeflippt war, keimte wieder etwas Hoffnung in mir auf.

Es vergingen mehrere Jahre, in denen ich einige Zeit in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken verbrachte, da ich weiterhin von Halluzinationen und Ängsten geplagt wurde und vom Alkohol nicht los kam.

Zwischendrin suchte ich regelmäßig Herrn Rishi auf. Ich hatte bald bemerkt, dass er wirklich ein spiritueller Lehrer war, der nichts mehr für sein Ego, sondern ausschließlich helfen wollte. Natürlich wunderte er sich, dass sich, trotz seiner ehrlichen Bemühungen, mein Zustand in keiner Weise besserte. Er entsorgte jedes Mal meinen ganzen seelischen Müll und, aufgrund meiner unsoliden Lebensweise, kam ich zwei Wochen später wieder in völlig kaputtem Zustand zu ihm und er konnte wieder von vorn beginnen. „Immer noch kein Licht,“ stellte er immer wieder ungläubig fest. Von meinen Saufgelagen erzählte ich ihm natürlich nichts.

Die Befreiung

Glücklicherweise gerieten meine Alkoholexzesse immer mehr aus dem Ruder, und ich kam um einige klinische Entgiftungen nicht herum. Als ich im August 1999 wieder einmal seit einer Woche in der stationären Entgiftung war, hatte ich eines nachmittags plötzlich den ersten klaren Gedanken seit Jahren, und der lautete: „Ich will Verantwortung für mein Leben übernehmen.“ Ich weiß nicht, wie der Gedanke in mein Hirn kam und schreibe es einfach Gott zu, dass Er Erbarmen mit mir hatte und ihn mir eingab.

Mir war sofort klar, dass ich meinen bisherigen Lebenswandel aufgeben musste, wenn ich Verantwortung für mein Leben übernehmen wollte, d.h. kein Alkohol mehr. Das Wichtigste war, trocken zu bleiben und um das zu erreichen, ging ich zu den Anonymen Alkoholikern. Wenn ich überhaupt eine Chance haben wollte, dann mit denen. Nach der Entlassung aus der Entgiftung besuchte ich sechsmal pro Woche die Meetings der AA, nur sonntags riskierte ich es, einmal pro Woche zu Hause zu bleiben.

Ich meditierte jetzt auch wieder regelmäßig und besuchte natürlich alle zwei Wochen Herrn Rishi, aber mein Seelenzustand besserte sich nicht wesentlich.

Im April 2000 fand ein „Männermeeting“ statt Es war mein erstes Meeting dieser Art. Der Leiter machte eine „Big-Book-Study“ mit uns, d.h. wir gingen einen Abschnitt im Blauen Buch durch. Diesmal sollte es um den Bereich des Dritten Schrittes des AA-Genesungsprogramms gehen, der lautet: “Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir Ihn verstanden – anzuvertrauen.”

Je weiter wir lasen, desto mehr erkannte ich, dass da genau von mir die Rede war, von dem Grunddilemma meines Lebens. Es war als wenn ein Schleier vor meiner Wahrnehmung fiel. Dort stand, dass ein Leben, das von Eigenwillen gesteuert wird, kaum Erfolg haben kann, dass jeder seine eigene Inszenierung durchziehen will, in der die anderen als Statisten so funktionieren sollen, wie er es will, was natürlich nicht klappt. Dann kam der Hammer: “Egoismus – Ichbezogenheit! Das, glauben wir, ist die Wurzel unserer Schwierigkeiten”. Genau das war es, dadurch hatte ich mich in die Katastrophe manövriert.

Weiter stand da, dass wir uns von unserer Selbstsucht befreien müssen – oder sie bringt uns um, aber wie sollte ich das tun, ich konnte alles nur auf eine selbstsüchtige Art tun. Das hatte ich mein Leben lang gelernt und kannte nichts anderes. In mir war keine Hoffnung mehr, jemals aus meinem inneren Sumpf herauszukommen und es gab kein Entrinnen.

Dann war von Gott die Rede, dass wir zu- nächst aufhören müssten, den lieben Gott zu spielen und Ihm endlich die Regie im Drama unseres Lebens zu überlassen, da sei sie in den besten Händen. Das war die Lösung. So könnte auch ich gerettet werden und könnte meine Ängste abgeben. Schließlich lasen wir das wunderschöne Gebet zum dritten Schritt, das ich seitdem täglich bete:

Gott,
ich gebe mich in Deine Hand, richte mich auf und tu mit mir nach Deinem Willen.
Erlöse mich von den Fesseln meines Ichs, damit ich Deinen Willen besser erfüllen kann.
Nimm meine Schwierigkeiten hinweg, damit der Sieg über sie Zeugnis von Deiner Macht, Deiner Liebe, Deiner Führung ablegen möge vor den Menschen, denen ich helfen möchte.
Möge ich immer Deinen Willen tun.

Seit diesem Abend änderte sich mein Leben vollständig und basierte auf Gott als Mitte und nicht mehr auf meinem Ego. Jeden Tag betete ich unzählige Male: „Gott, wie kann ich Dir am besten dienen, Dein Wille geschehe, wie kann ich Dir am besten dienen, Gott.“

Mir wurde klar, dass ich mich mein Leben lang vom Rest der Welt getrennt gefühlt und dieses Äußere als Bedrohung empfunden hatte. In meiner Individualität lebte ich in Trennung und Entfremdung vom Geist und vom Rest der Welt. Ich war getrennt von der Welt “da draußen”, und ich nahm sie als äußerlich wahr, als fremd und feindselig. Und mein eigenes Selbst empfand ich ganz entschieden nicht als eins mit dem All, mit allem Existierenden, mit dem unendlichen Geist. Es schien vielmehr eingeschlossen – eingesperrt – zu sein in dieser Behausung aus sterblichem Fleisch.

Diesen Stand der Dinge bezeichnet man als “Dualität”. Ich spaltete mich selbst als “Subjekt” von der Welt der “Objekte” ab, und von diesem Ur-Dualismus ausgehend, spaltete ich die Welt in alle möglichen Gegensätze auf: Lust und Schmerz, Gut und Böse, wahr und unwahr usw.. Da ich so die Wirklichkeit meiner Ganzheit nicht wahrnehmen konnte, war ich von einem Gefühl des Mangels und der Zersplitterung geplagt.

Ich durchlief in der Folgezeit einen emotionalen und mentalen Reinigungsprozess, der auch heute noch fortdauert. Zuerst wurde ich mit meinen tiefsten Ängsten und schrecklichsten Phantasien konfrontiert, vor denen ich mich all die Jahre verkrochen hatte. Es gab nur zwei Alternativen: Hinschauen, das hieß mich Gott zuwenden, der allumfassenden Wahrheit; oder Wegschauen, das hieß mich weiter in meinem Ego verstecken wollen, was nicht mehr ging. Es war eine einzige Achterbahnfahrt, aber Er hat mich getragen und ließ mich das, was ich anzuschauen hatte, ertragen, und ich konnte das Grauen in Seine Hände geben, ohne nach einer Lösung suchen zu müssen.

Langsam wurde es leichter und immer heller in mir, aber keiner bemerkte es, obwohl ich das Gefühl hatte, dass auf meiner Stirn in Leuchtbuchstaben stehen würde: Er hat Gott gefunden.

Ich begann mich für die Schritte des AA-Programms zu interessieren, und nach einigen Wochen gab mir mein Sponsor grünes Licht für den vierten Schritt, in dem uns empfohlen wurde, eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren zu machen. Natürlich kamen beim Schreiben unangenehme Gefühle und Fluchttendenzen auf, aber ich konnte immer wieder an die Höhere Macht abgeben, wieder genau hinschauen und so eine Bestandsaufnahme von mir und meinem Leben machen. Auch die paranoiden Anteile konnte ich – geborgen in Gottes Hand – in der Bestandsaufnahme aufnehmen, ohne davor die Augen verschließen zu müssen oder eine Lösung parat haben zu müssen.

Inzwischen ging ich natürlich weiterhin zu Herrn Rishi, aber unsere Meditationen bekamen für mich eine neue Qualität. Es war außergewöhnlich, aber ich nahm es – wie alles andere – als Gottes Werk hin. Während wir saßen, hatte ich das Gefühl, dass ein Starkstromkabel an mein drittes Chakra angeschlossen wäre und gleichzeitig putzten zwei Scheibenwischerblätter in meiner Stirn mein sechstes Chakra, das dritte Auge, in dem Punkt zwischen den Augenbrauen. Im Hintergrund hörte ich Herrn Rishi ruhig und gleichmäßig atmen. Nach jeder Sitzung mit ihm fühlte ich mich von Grund auf erneuert. Aber auch wenn ich allein meditierte, wurde es von Mal zu Mal lichter in mir, und aus der Pflicht wurde ein tiefes Bedürfnis, mich täglich eine Stunde hinzusetzen.

Ein Leben ohne Meditation kann ich mir gar nicht mehr vorstellen und es wundert mich immer wieder, wie viele Menschen sich wehrlos den Launen ihres Egos aussetzen und sich von seinen Einbildungen hin und her hetzen lassen. Meiner Erfahrung nach ist die beste Methode, sich aus der beschränkten Perspektive des Egos zu befreien, die Meditation.

In der Meditation erkenne ich allmählich: Da ich alle diese Ich-Inhalte sehen kann, können sie nicht der Sehende, der eigentliche Zeuge sein. Damit geht meine Identität allmählich vom Ich, auf den unpersönlichen Zeugen über, der das wahre Selbst ist, eins mit Gott und eins mit dem Geist.

Wenn man die Ebene der Seele wirklich erreicht hat, ist man wahrhaft in der Position des Zeugen, des Selbst. Und wenn man auch diese Ebene noch hinter sich lässt, ist der Zeuge plötzlich identisch mit allem, dessen Zeuge er ist – man ist eins mit allem, was man wahrnimmt. Man nimmt z.B. die Wolken nicht wahr, sondern man ist die Wolken. Das ist der Geist.

Meine Aufmerksamkeit war mein Leben lang nach Außen gerichtet gewesen. Jetzt richtete ich sie immer mehr nach Innen. Es war egal, ob oder was andere von mir wahrnahmen. Es interessierte mich immer mehr, was ich bin, und das war jenseits aller Worte und Begriffe.

Mein Herz wurde immer weiter und oft war mein Brustraum von einer intensiven Wärme erfüllt. Auch mein Kopf wurde weiter und irgendwie leer. Besonders in der Meditation mit Herrn Rishi hatte ich manchmal sogar Schwierigkeiten das Mantra zu formulieren, mit dem ich gerade meditierte. Mein Verstand schien still zu stehen oder sich aufzulösen.

Die Beziehung zu Herrn Rishi wurde immer intimer und herzlicher. Manchmal nahm er mich fest in die Arme und sagte, dass ich einer der größten Erfolge seines Lebens sei. Ich erkannte immer mehr in ihm den vollkommenen erleuchteten Meister, und er sagte, dass es unsere Aufgabe als Mystiker sei, das Licht im anderen zu erkennen.

Die Grundlage meines täglichen Lebens war das AA-Programm und meine ständige Bereitschaft mich in allen meinen Belangen Gott zuzuwenden. Nur durch Ihn konnte ich leben, und ohne Ihn war ich nichts. Oft war ich von nichts anderem erfüllt, als grenzenloser Liebe und mein Herz schien das ganze Zimmer zu erfüllen, in dem ich mich gerade befand.

In mir wuchs das Bedürfnis, mich nützlich zu machen und anderen Menschen zu helfen. Natürlich fragte ich Herrn Rishi, ob ich es dürfe; denn wenn ich mit Menschen arbeiten würde, dann wollte ich es so tun, wie ich es bei ihm gelernt hatte. Ich wusste nur nicht, ob ich schon so weit war, es zu versuchen. „Selbstverständlich sind Sie schon so weit,“ sagte er, „Sie sind jetzt auf der Stufe eines Meisters und können natürlich Schüler annehmen.“ Ich war etwas verblüfft; denn ich hatte eigentlich gedacht, dass ein Meister mehr drauf hätte und wüsste, als ich. Das einzige, was ich konnte, war mich so weit zu öffnen, dass die spirituelle Energie ungehindert durch mich hindurch floss und so auch anderen zugute kam. „Wenn Sie jemand fragt, wie sie arbeiten,“ sagte Herr Rishi, „dann sagen sie einfach, Sie seien die Fernbedienung Gottes.“ Wir lachten beide, aber genau das war ich ja tatsächlich.

Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, was ich bei Herrn Rishi gelernt habe. Das wichtigste war sicherlich, in seiner Gegenwart meditieren zu dürfen, in diesem Feld höchster Energie und unglaublich konzentrierter Präsenz, dem ich mich selbst in meinen schlimmsten Phasen nicht entziehen konnte. Die dramatischste Veränderung hat im Grunde auch nicht zuerst in meinem Kopf stattgefunden, sondern in meinem Herzen, das von einem lebenslangen Panzer befreit wurde und sich heute in einer unendlichen, lichten Weite ausbreiten kann. Alles Enge, alle Knoten, die täglich immer wieder mal auftreten, lösen sich mühelos auf, wenn ich innerlich einen Schritt zurücktrete, loslasse und mein Herz seine Arbeit machen lasse.

Im Wesentlichen besteht meine spirituelle Arbeit heute im mich Zurücknehmen und die Energie in mir sich so entfalten zu lassen, wie sie es möchte, anstatt zu powern und Energie zu pumpen, wie ich es früher getan hatte. Was habe ich mir damals nur an Gewalt angetan, weil mir die wahren Gegebenheiten nicht bewusst waren. Ich hatte mich mehr auf mein begrenztes Ego verlassen und es aufgebläht und meine Leidenschaften und Begierden geschürt, anstatt auf den unendlichen Gott zu vertrauen und inneren Frieden, Freiheit, Liebe, Licht und unendlich viel mehr zu finden.

Ich habe immer weniger Interesse an den Täuschungen der materiellen Welt und bemühe mich, ihren Mechanismen zu widerstehen. Stattdessen schaue ich lieber in mein Inneres, neugierig, was Er mir noch eröffnen möchte. Das Abenteuer hat gerade erst begonnen.

Der Weg ist das Ziel, und Herr Rishi sagt, dass Gott wie ein Horizont ist, der, wenn wir Ihn erreicht haben, uns schon wieder vorausgeeilt ist und zu sich lockt, oder wie es bei AA heißt: „Wir streben eher nach spirituellem Fortschreiten als nach spiritueller Vollkommenheit.“

Die Seele empfängt aus der Seele das Wissen und nicht aus Büchern, noch vom Reden. Erwächst das Wissen der Geheimnisse aus der Leerheit des Geistes, so ist das Herz erleuchtet.
Rumi

Helmut (2006)