Mein Leben – meine spirituelle Krise

Ich erhielt von Frau Maria-Anne Gallen (SEN-Mitglied und psycholog. Psychotherapeutin) eine Anfrage, ob ich ihr aus Sicht und auf der Basis meiner Selbsterfahrung mit meiner „spirituellen Krise“ einen Beitrag leisten kann, der etwas Licht auf einen psychischen Entwicklungsprozess wirft, den die akademische Psychologie – aus mir persönlich sehr verständlichen Gründen – noch etwas unsicher behandelt.

Die Bedeutung transpersonaler Zustände des Bewusstseins müssen jene, die sie nicht aus eigener Erfahrung kennen, oft noch als bedenklich ansehen, da sie die Struktur des Ego-Bewusstseins destabilisieren. Die Erschütterung des Egos wird klar erkannt und die schmerzhaften Auswirkungen sollen nicht beschönigt werden. Doch was aus der Tal-Perspektive zerstörerisch und pathologisch erscheint, ist aus der Sicht vom Berg (der Läuterung) hinunter ein Prozess der Befreiung, den man allerdings erst im Nachhinein als einen solchen wahrnimmt.

Die Zerstückelung der Persönlichkeit – in der Alchimie ein altbekanntes Stadium der geistigen Entwicklung (originales Manuskript-Bild um 1680)

Neurotische Störungen waren in meinem Leben der Ausgangspunkt für eine Entwicklung, die meine Aufmerksamkeit zuerst auf den literarischen Bereich lenkte. Ich las Hesse, Goethe, kurz, spirituelle Schriftsteller bis Rumi. Nachdem dieses Feld nicht mehr ergiebig genug war, landete ich bei den Philosophen, von Nietzsche bis Schopenhauer um auch hier alle möglichen Antworten auf meine „Störungen“ und „Anpassungsschwierigkeiten“ aufzunehmen. Der Weg ging weiter und je mehr ich las umso tiefer geriet ich in meine Verwirrung über meine „wahre Identität“. Nun erwachte mein Interesse an der Psychologie und ich verschlang C. G. Jungs umfangreiches Werk. Endlich wurden mir die ersten tiefenpsychologischen Zusammenhänge klar und ich hatte über ein paar Jahre eine Verschnaufpause bei meinem Aufstieg und konnte mein Leben in einer für mich akzeptablen Stabilität leben.

Mein theoretisches Gerüst hatte sich nun so weit gefestigt, dass ich den positiven Aspekt meiner Schwierigkeiten erkannte, und ich war nicht mehr zu verunsichern, was meine Sensibilitäten und meine Eigensinnigkeiten anging. Auch war mir das theoretische Ziel, die Individuation, wie sie Jung nannte, vollkommen bewusst geworden. Aufgrund der vorgezeichneten psychischen Landkarte C. G. Jungs fand ich mich zurecht und bin heute noch zutiefst dankbar für diesen großen Vordenker und Vor-Leider, der den nachfolgenden Gralssuchern so zahlreiche Lichter in der Dunkelheit aufgestellt hat.

Zur Theorie gehört bekanntlich die Praxis und instinktiv richtete sich mein Interesse nun auf jene Bereiche, die Erfahrungen veränderter Bewusstseinszustände „versprachen“: Meditation, Schwitzhütten, Yoga und so weiter. Ich geriet in den Bereich der Selbsterfahrungsgruppen und landete schließlich bei Schamanen in Nepal, die auch Kräuter und Pilze in ihrer „Hausapotheke“ führten und erkannte durch sie, dass meine während der Meditation als aufregend und sensationell erfahrenen Zustände für sie ganz „normal“ waren. Natürlich sprachen sie über Dämonen und gute Geister, wenn hilfreiche oder störende Gefühle sie erschütterten. Bei den Schamanen erfuhr ich viel über „Energiearbeit“ – das Lenken von Energie. Die psychologische Hausapotheke sozusagen.

Parallel zu den Abenteuern an der Basis kam mein langjähriges Interesse am Buddhismus zu einer überraschenden Blüte. In meinem Seminarhaus, das ich mit meiner Frau mittlerweile aufgebaut hatte, tauchte eines Tages die Anfrage auf, ob ersatzweise Räumlichkeiten für einen Dzogchen-Meister der tibetischen Bön-Tradition für ein Seminar kurzfristig frei wären. Das war der Fall.

Auf diese Weise bestätigte mir ein kleiner freundlich lächelnder buddhistischer Mönch, dass meine Erfahrungen typisch für den spirituellen Weg seien und er machte mich mit den tantrischen Aspekten des
„Wandels des Geistes“ bekannt.

Auf dem Weg der Geistesschulung hat ein Schüler stets die Begleitung eines spirituellen Freundes (Meisters), der ihm die Gefahren des Weges erklärt und hilft, diese zu durchlaufen. Auf gewissen Stufen der Entwicklung des Geistes bricht immer wieder Panik aus und man könnte glauben, man habe die „Karre nun endgültig in den Dreck“ gesetzt. Tenzin Wangyal Rinpoche hörte sich meine Ausführungen und Bedenken geduldig an und verwies mich dann auf jene Stellen in buddhistischen Schriften, die genau diesen (Krisen-) Punkt behandelten. Mehr brauchte ich nicht mehr. Es reichte mir, dass mich jemand verstand, jemand der meine Visionen einordnete, der sie nicht nur entpathologisierte (und damit entängstigte) sondern gar als günstige Hinweise verstand. Im Himalaya freut man sich, wenn man Visionen empfängt   und in ihnen seinem „Geistführer“1 (spirituellen Meister) begegnet.

Nun, zu mir sprach während eines längeren Retreats (meditativer Rückzug) kein tibetischer Meister, sondern Christus. Aber das war für Tenzin kein Problem. Das seien „heute doch nur geistige Energiefelder“ die sich einen Ausdruck verschaffen und die je nach Kulturkreis „Hilfsgeister“, „Christus“ oder „Buddha“ genannt werden. Man dürfe sie als Eingebungen der höheren Ebenen werten, doch müsse man sie in einen bewussten Kontext bringen und dürfe sich keinesfalls damit identifizieren. Wenn man im buddhistischen Rahmen damit umginge, rufe man eine Erscheinungsform des transzendenten Buddha an, lasse das Bild und die dazugehörigen Gefühle (Energien) in sich einfließen und entlasse sie anschließend wieder. Das solle man nicht vergessen, denn sonst habe man eine „Besetzung“. Die Geister die man ruft, muss man auch wieder entlassen können.

Für das alltägliche Bewusstsein ist dieser Vorgang von entscheidender Bedeutung, denn hier wird signalisiert, dass man einen Umgang mit jenen Energiefeldern, die in der Psychologie als autonome Komplexe oder Archetypen (C. G. Jung) bezeichnet werden, finden kann.

Für einen ausgebildeten (wahren) Meister ist der Umgang mit seinen Emotionen (genauer: emotionalen Komplexen) kein Problem. Er weiß ja, dass er sie „rufen“ und „erwecken“ kann, hat ihnen Namen gegeben und entlässt sie „nach Gebrauch“ wieder in der „Leere“. Das heißt, er ist sich darüber bewusst, dass auch sie letztlich „nur“ Erscheinungen in „seinem“ Bewusstsein sind.

Die Nichtidentifikation mit einer Energieform (ob erwünschte Liebe oder unerwünschter Hass) ist m.E. von ausschlaggebender Bedeutung für jene, die gerade von einem „autonomen Komplex“ ergriffen sind und damit unter Umständen pathologisiert werden. Und das nur, weil in unserem Kulturkreis das Wissen um die „Handhabung“ einer „autonomen Gottheit“ nicht gerade zum psychologischen Allgemeinwissen gehört.

Wir alle werden ständig „begeistert“ (entheos), das heißt von einer Gottheit besetzt. Amor schießt täglich tausende von Pfeilen ab und lässt seine Opfer in Seligkeiten schweben. Niemand stört sich weiter daran, es sei denn, man ist unglücklich (zwangsweise und hoffnungslos) verliebt, dann wird auch Amor zum Problem.

In vielen psychologischen Praxen aber tauchen Menschen auf, die vom Kriegsgott Mars „besessen“ sind und ihre Wut nicht mehr unter Kontrolle haben. Andere hat der Unterweltgott Hades im Griff und zwingt sie in Depression und Trauer.

Solange ein Mensch von „guten Geistern“ motiviert wird, lebt er sein Leben recht gerne im manischen Stil und ist damit vielleicht sogar ein erfolgreicher Geschäftsmann oder Künstler. Gegen seine Depressionen hätte er allerdings gerne ein paar Tabletten, um die „bösen Geister“ schnell zu vertreiben. Das mag für eine Weile helfen, doch Hades und seine Unterweltgeister lassen sich nicht mit Chemie besiegen. Sie wollen ans Licht des Bewusstseins.

Tenzin zeigte mir die Abbildungen seiner „Dämonen“. Sie waren auf Thankas (Budd. Rollbilder) der Reihe nach abgebildet. Er tippte mit dem Finger auf Mahakalla, den „Großen Schwarzen“ der in seiner integrierten Form eine mächtige Schutzgottheit ist. Für Menschen, die ihn nicht kennen und keinen bewussten Umgang mit ihm haben, wird er zum Fürsten der Finsternis. Er verursacht Krankheiten, Depression und autoaggressives Verhalten als Reaktion auf seine Unterdrückung. Tenzin, der wie ganz nebenbei auch Heilrituale ausführte, sagte mir, es gehe in erste Linie darum, zu erkennen, welche Gottheit (Energieform) eine Krankheit hervorrufe.

In übertragener Form möchte ich hier sagen: Wenn wir unsere Sexualität unterdrücken, das heißt Venus in Schach halten, zwingt sie uns beispielsweise in eine unglückliche Verliebtheit, die wir als „krank“ empfinden können. Wenn wir unsere Spiritualität unterdrücken, und damit „Christus“ in uns missachten, dann wird unser Leben oberflächlich flach und sinnlos. Es fehlt uns an Würde, an Selbstachtung und Selbstliebe. Doch lässt uns der „Christuskomplex“ nicht fallen. Ebenso wie sich Venus im 20. Jahrhundert ihren rechtmäßigen Platz zurück eroberte, wird sich auch das Bewusstsein durchsetzen, dass wir jetzt verstärkt an der Entpathologisierung spiritueller Erfahrungen arbeiten müssen, was bedeutet, dass wir lediglich gewisse Vorurteile aus dem vergangenen zwanzigsten Jahrhundert ausräumen müssen, einem Jahrhundert, das dem Ego (dem unbewussten Mahakalla) gehörte.

Tenzin eröffnete mir die Perspektive: Wenn wir das Ego-Bewusstsein dem höheren Bewusstsein (dem neutralen Zeugen in uns) unterstellen, wird Mahakalla zu einem „Werkzeug“ zu einer Schutzgottheit. Das Ego schützt die Seele vor den Verletzungen in der aggressiven Außenwelt. Er sagte zu mir: „Du musst lernen, das Ego ein und wieder auszuatmen.“ Damals verstand ich noch nicht. Heute folge ich dankbar seinem Rat. Ich ziehe den Mantel an und lege ihn wieder ab.

Werfe ich einen Blick zurück auf die verwirrenden Geschehnisse während meines Weges, kann ich im Rückblick sagen, dass mir alle Geister hilfreich zur Seite standen, jene, die mich bis ins Mark erschütterten und jene, die mich in ekstatische Himmel führten. Spirituelle Krisen sind eine Chance und als solche müssen sie erkannt oder zumindest in Erwägung gezogen werden, sonst dürfen wir uns nicht „transpersonale“ Therapeuten oder wie ich es für mich tue „tiefenpsychologischer Schlichter“ nennen.

Ich selbst sehe mich nicht als Therapeut, ich bin eher Künstler, Schriftsteller, Bewusstseinsforscher, Psychonaut und Menschenfreund, der auf seiner Reise durch die Unterwelt natürlich die Sprache der Schriftsteller, der Psychologen, der Philosophen, der Psychonauten, der Schamanen und der Spirituellen gelernt hat. All diese Sprachen und Konzepte führen in dieselbe Richtung: Heilung des zerstörten und erschütterten Ich durch ein neues Ordnungssystem für die verwirrte Psyche. Der Hermaphrodit der Alchimie zeigt in der Nachfolge zum obigen Bild eine neue Stufe des Bewusstseins, eine Heilwerdung des zuvor zerstückelten Egos.

Hartwig (2006)

Der Hermaphrodit – Symbol der Heilung und Ganzheit. (Alchimistisches Manuskript)

1 Natürlich tauchen auch böse Geister auf. Dann schaut der Meister, welche Gottheit (oder Aspekte Buddhas) man verachtet und sie damit erzürnt. Durch die Beachtung beruhigt man dann die Gottheit. Auf der Ritualebene beginnt das zum Beispiel mit Opfergaben, Gebeten, Entschuldigungen oder man widmet ihnen „Gedichte“ usw.