Erwachen trotz/mit und aus einem Trauma

Vorgeschichte:

Ich war überhaupt kein spiritueller Mensch. Die Idee, einen spirituellen Weg zu gehen, kam erst, als das Leiden zu groß wurde. Da waren immer wiederkehrende Depressionen, eigentlich schon seit Kindheit an. Zwei Jahre ging es gut, dann ging es bergab. Ich habe auch Medikamente genommen.

Ich hatte immer wieder Suizidgedanken ab 30, es gab immer ein überwältigendes Bedürfnis nach Ruhe und die konnte ich nicht finden. Ich war ständig in emotionalem Schmerz, konnte nicht schlafen und das verdichtete sich und wurde immer schlimmer, bis ich vollkommen zusammenbrach. Ich konnte tagelang nicht aufstehen, schon Zähneputzen war zu viel. Es ging gar nichts mehr…

Spirituelle Suche

Keine klassische Therapie hat mehr geholfen. Ich war gefühlt am Ende und da begann mein spiritueller Weg. Ich hab ihn gar nicht gesucht, sondern mir ist jemand begegnet, der Spiritualität und Therapie vereint hatte und das war mein Riesenglück. Da war eine Verbundenheit und so kam ich zur ursprünglichen Lehre Buddhas.

Dieser Mensch begleitete mich eng im täglichen Dialog über vier Jahre.

Ich begann, zu meditieren. Minischritte: Am Anfang 10 Minuten. Bis ich bei zweimal am Tag bei jeweils 45 Minuten war. Ich konzentrierte mich ausschließlich auf meinen Atem und ließ Gefühle

aufsteigen, alle unterdrückten Gefühle kamen nach und nach an die Oberfläche. Ekel, Scham, Hass, Wut, Trauer, Angst, die ganze Palette. Das war oft so heftig, dass ich mich übergeben musste und ich erlebte in dieser Heftigkeit eine reinigende und klärende Wirkung. Das gab mir das Vertrauen in diesen Prozess und das Vertrauen, dass ich “unaushaltbare” Gefühle halten und fühlen kann. Das wäre mir früher und ohne diese Begleitung nicht möglich gewesen. Ich konzentrierte mich auf diese Empfindungen ausschließlich in der Meditation. Wenn ich tagsüber merkte, dass etwas hochkommt, habe ich das Gefühl wahrgenommen und es auf später vertröstet, so dass ich es bei den Sitzungen in Ruhe fühlen konnte.

Dadurch bekam ich einen Freiraum von der Dichte dieser starken Emotionen.

Parallel dazu machte ich eine körperorientierte Traumatherapie nach Peter Levine, um die körperlichen Blockaden aufzulösen, das war sehr sehr hilfreich!

Geholfen hat mir auch, dass ich während der Meditation erkannte, dass Gefühle einfach nur Energien sind und ich mich nicht mit ihnen identifizieren muss, sondern ich sie als Energie spüren kann. Es sind nicht “meine” Gefühle, sondern einfach nur Gefühle. Nach und nach kam die Erkenntnis, dass ich mich nicht mit der Geschlagenen, Vergewaltigten, Missbrauchten identifizieren muss, sondern dass mein wirkliches Sein von diesen Ereignissen unbeeinflusst ist.

Erwachen

Ich habe sehr gehofft, dass dieser Weg jetzt das Leiden beendet. Mir wurde erst sehr spät bewusst, dass ich komplex traumatisiert war und dass es hier einen Zusammenhang mit den Depressionen gab. Das war mir nicht klar, obwohl ich mich an Erlebnisse erinnern konnte. Ich habe nie nie gedacht, dass ich erwachen könnte. Aber nun weiß ich: ES ist möglich!!!

Für Jede und Jeden!! Auf diesem Weg kam eine Menge hoch und nun bin ich an einem Punkt, wo ich das sichere Gefühl empfinde, niemals wieder depressiv zu werden. Es ist vorbei. Das Leid hat sich aufgelöst und das Suchen ebenfalls.

Es gibt auch nichts mehr, was ich wissen muss. Ich fühle Liebe und ruhige Akzeptanz. Auch jegliche Leidenschaft ist weg. Das ist mir sehr schwergefallen, zu akzeptieren …dieser Wegfall der Leidenschaft. Ganz gleichgültig, ob sie etwas mit Freude oder Leiden zu tun hat, ich konnte mir ein Leben ohne nicht vorstellen. Durch meine Traumatisierung war ich an Extreme gewöhnt. Und gleichzeitig fühle ich mich seit dem Erwachen lebendiger als je zu vor. Diese Lebendigkeit fühlt sich frei und ohne Grenzen an. Das bedeutet für mich, dass ich fühle, mich selbst zu verwirklichen, ohne zu wissen, was dieses Selbst ist und wie die Verwirklichung konkret aussieht. Vergangenheit und Zukunft sind weggefallen. Es gibt keine Notwenigkeit, eine Zukunft zu kreieren. Also viel weniger Stress.

Es gab einen Punkt, wo plötzlich auch kein ICH mehr da war. Die Einsicht, dass das ICH eine Illusion ist. Dies geschah durch die Selbsterforschung im Rahmen des buddhistischen Konzepts der 10 Fesseln. Die Arbeit mit dem Konzept der 10 Fesseln unterscheidet zwischen dem, was wirklich ist und dem, was durch Gedanken hinzugefügt wird. Und so erkennt man nach und nach, dass unsere Welt durch Gedanken entsteht. Was blieb, ist reines Erleben. Ich erlebe viel weniger Gedanken, stattdessen einen ruhigen Verstand, den ich tatsächlich als Werkzeug benutzen kann.

Als das ICH nicht mehr da war, habe ich nur noch gelacht und was auch völlig weg war, war die Wut.

Dieses persönliche Betroffensein gibt es nicht mehr. Das war für mein Umfeld etwas schwierig, weil ich nicht mehr so reagierte, wie früher.

Eine weitere Erfahrung war, dass Haben/Nichthabenwollen/Begierde/Übelwollen auch nach dem Auflösen des Ichs noch da waren, obwohl die Reaktionen schwächer geworden waren. Hier war es fast ein Schock, zu erkennen, dass es das auch nicht gibt. Und dann fiel die Last weg.

Erwachen heißt für mich, dass alles noch einmal gefühlt wird, es war ein Prozess, während dem es auch schmerzhafte Zeiten gab. Diese wechselten sich mit sanfteren Phasen ab. Erwachen geschieht in jeder Körperzelle.

Fazit

Meine Therapieerfahrung und der Umgang mit Gefühlen haben mir auf jeden Fall geholfen. Ohne Therapie/Traumatherapie kann es schwierig werden, wenn das Ich-Gefühl sich auflöst. Dann tauchen die alten Gefühle ungebremst nach oben, es geht nicht mehr zu unterdrücken.

Und nun: wie lebe ich nach dem Erwachen? Ganz normal würde ich sagen – mit mehr Liebe und Ruhe. Mit Dankbarkeit. Und ich begleite Menschen auf ihrem Weg. Auch aus Dankbarkeit!

Kerstin, 57 Jahre alt.