Kundalini-Erfahrungen

Spontane Kundalini-Auslösung

Im Juli 1993 (in meinem 35-sten Lebensjahr) bekam ich plötzlich Rückenschmerzen im unteren Rücken. Ich hatte in diesem Jahr neben Kindern (5 und 7 Jahre) und Haushalt sehr viel gearbeitet und mir kaum Entspannung gegönnt. Als ich dann im Herbst zusätzlich noch eine 15-Stunden-Stelle antrat, wurden die körperlichen Symptome schlimmer – noch mehr Rückenschmerzen, Erschöpfungssymptome, Schwindelgefühle, Druckgefühle im Oberbauch.

Ein erster Zusammenbruch kurz vor meinem 35. Geburtstag – am Ende eines Workshops, nach 4 Tagen intensiver Psycho-Arbeit, Einbruch in ein Gefühl von Todes-Angst, dauerte etwa zwei Stunden.

Ab da hatte ich immer wieder kleine Anflüge von Angst, fühlte mich ständig erschöpft und oft schwindlig und schlecht geerdet. Wegen der Rückenschmerzen ging ich zu einem Körper-Therapeuten. Nach drei Behandlungen hatte ich meine Erdung völlig verloren, mir war nur noch schwindlig und ich hatte tierische Angst. Ich legte mich ins Bett und gab den Job auf. Meine Schwester, die Ärztin ist, hielt mich davon ab, einen Arzt aufzusuchen, sie sagte: “dir fehlt nichts, lass’ dich auf das ein, was ist…”

Irgendwann in dieser Zeit fasste ich den Mut, mich voll auf diesen inneren Prozess einzulassen. Ich ließ alles los und begab mich auf eine innere Reise. In dieser Zeit konnte ich mich kaum mehr auf irgendetwas Äußeres konzentrieren, mein  Bewusstsein war zu etwa 98% von inneren Vorgängen eingenommen. Der Puls raste, mein Stoffwechsel arbeitete auf Hochtouren. Innerlich ging eine Berg- und Talfahrt von erhebenden Einsichten und schmerzhaften biographischen Erinnerungen ab, die mir einfach so um die Ohren flogen. Ich legte mir eine Tagesstruktur zu, die ich in einem jesuitischen Retreat kennen gelernt hatte und versuchte zwischen Phasen der Entspannung (spazieren gehen), Zulassen des Prozesses (dabei zitterte ich häufig am ganzen Körper) und Aufschreiben der Erfahrungen abzuwechseln. Schlafen konnte ich nur, wenn mein Mann neben mir lag – in dieser Zeit begriff ich, welch segensreich-erdende Wirkung er auf mich ausübt.

Nach etwa einer Woche bemerkte ich, dass der Prozess nach der Chakrenlehre (die mir vertraut war) ein aufsteigender war, ab da verfolgte mein “innerer Beobachter” wie der Prozess voranschritt. Nach dem Durchschreiten des dritten Auges erlebte ich einen “inneren Tod”, einen psychischen Schmerz, den ich kurzfristig wirklich für das Ende meines Lebens hielt. Danach löste sich alles in Nichts auf, ein wunderbar friedlicher, unbeschreiblicher Zustand, drei Tage lang. Erst drei Jahre später begriff ich, dass das wohl die begehrte Einheitserfahrung war, nach der so viele suchen – ich war einfach froh, dass der psychische Ausnahmezustand vorbei war.

Aufarbeiten der initiatischen Erfahrungen

Ich wollte mich wieder ganz normal meinem Leben zuwenden, aber irgendwie war alles anders. Einerseits begann ein Reinigungs- und Aufarbeitungs-Prozess der ganzen aufgewühlten Emotionen, andererseits wurde ich gezwungen, mir eine völlig neue Lebensgestaltung (viel weniger Arbeit und Stress) und eine spirituelle Ausrichtung zuzulegen. Es zog mich nach innen zu meiner Mitte, der Quelle meines Seins, wie ich später herausfand. Ich hatte das Gefühl, den Aufstieg, der im Zeitraffer-Tempo geschehen war, mit Bewusstheit und Disziplin nachzuarbeiten. Ich arbeitete nur wenig und nahm mir zwischendrin viel Zeit, mich mit den inneren Dingen, die anstanden zu beschäftigen.

An mehreren Stationen überprüfte ich für mich selbst, ob ich irgendwo hingehen sollte – zu Leuten, die sich mit solchen Prozessen auskennen. Nachdem das aber in jedem Fall eine längere Abwesenheit bedeutet hätte, bekam ich von meinem Herzen immer wieder die Antwort, dass es sich nicht richtig anfühlte, die Kinder für so lange Zeit alleine zu lassen. Außerdem bot mir diese kleine Familie mit einem sehr unterstützenden Partner und den Kin- dern, die mich wie einen normalen Menschen behandelten, obwohl sich kaum mehr etwas “normal” anfühlte, genau den Halt und die Struktur, die ich brauchte. Meine Lehrer und Begleiter waren Bücher und immer wieder der eigene Prozess, dem ich mich anvertrauen konnte, weil ich in meiner langjährigen (humanistisch) psychotherapeutischen Ausbildung damit immer gute Erfahrungen gemacht hatte, mich einem nächsten inneren Schritt zu überlassen.

Die erste große Einheitserfahrung hatte mich fast völlig unvorbereitet getroffen. Dadurch wurden Spannungen erzeugt, die im Zen-Buddhismus als “Zen-Krankheit” bekannt sind. In diesem Zusammenhang werden dort vor allem die Erfahrungen des Mönchs Hakuin (1686 – 1769) geschildert, der nach seiner ersten Erleuchtungserfahrung jede Menge an körperlichen und psychischen Beschwerden entwickelte, die keine Medizin heilen konnte. Er traf dann auf den Weisen Hakuyu, der ihm folgende Diagnose stellte: “Deine Meditation ist weit über deine Kraft gegangen. Wenn du dir nicht die wunderbaren Wirkungen der Introspektion zunutze machst, wirst du schließlich und endlich nicht mehr bestehen können.”

Das entspricht genau meiner eigenen Erfahrung: In dieser Phase ging es darum, das was sich viel zu schnell im Bewusstsein ereignet hatte, auf das Fundament einer tragfähigen spirituellen Praxis und Lebensführung zu stellen und die einzelnen Schritte noch einmal in normalem Tempo nachzuvollziehen.

Vertiefung der Einheitserfahrung und Loslassen der eigenen Identität

Nachdem auch nach 4 Jahren keine wirkliche Besserung und Auflösung meines Prozesses zu spüren war beschloss ich, meine Arbeit ganz aufzugeben, eine Sabbatzeit zu nehmen und mich ganz auf ihn einzulassen. Hier begannen die härtesten vier Jahre meines Lebens. Kurz nach dieser Entscheidung schienen mich meine Willenskräfte völlig zu verlassen, ich konnte keine willentlichen Entscheidungen mehr treffen, vor allem auch meine Ängste nicht mehr kontrollieren. Das ständige Konfrontiert-Sein mit meinem Nicht-Funktionieren erlebte ich als eine Dauerkränkung für mein Ego.

Zu diesem Schritt, der die Auflösung der Identifizierung mit den eigenen Ich-Strukturen bedeutet, schreibt A.H. Almaas (2004): Dieser Schritt “ist im Transformationsprozess der Schwierigste, da er von uns verlangt, einen Teil der eigenen Identität loszulassen, und dieses Aufgeben kann als Auflösung, als Desintegration, als Fragmentierung oder als Gefühl auseinanderzufallen erlebt werden. Dieser Wendepunkt kann sehr schmerzhaft und beängstigend sein, weil das alte Identitätsgefühl zerbröselt und abfällt, ohne dass man weiß, was – oder ob überhaupt etwas – an seine Stelle treten wird.” (S.43: teilweise eigene Übersetzung)

Der Wegfall weiter Teile der eigenen Identität macht sich häufig durch einen starken Wunsch nach Rückzug bemerkbar und es können äußerlich existentielle Dinge im ganz realen Leben wegbrechen: Gesundheit, Partnerschaft und/oder Berufssituation. “Es ist als spränge man in einen Abgrund, und das kann schrecklich sein. Wenn einem der Sprung in den Abgrund leicht fällt, ist die eigene Transformation meistens einfach. Fallt einem das Loslassen vergangener Identitäten aber schwer, ist es sehr schmerzhaft oder mit extremer Angst besetzt, wird man dazu neigen, das Alte festzuhalten und auf das Ich ausgerichtet zu bleiben” (Almaas 2004, S. 43).

Ich verfolgte weiterhin hingebungsvoll meine selbst-auferlegten Exerzitien, Gehmeditationen im Wald, Körper- und Atemübungen und verstärkte meine meditativen Aktivitäten. Mit der Zeit geriet ich immer mehr in eine besessene Überzeugung, in der Erfahrung der Substanzlosigkeit des Geistes, die Auflösung und Erlösung von meinem Leid zu erfahren. Eine extreme Sehnsucht zog mich nach innen, ich wollte mich nur noch einem höheren Bewusstsein hingeben. Das täglich mehrstündige intensive Meditieren befähigte mich zunehmend dazu, durch die “Lücke zwischen den Gedanken” einzutreten und mich in einer Erfahrung von Zeit- und Raumlosigkeit aufzuhalten, wenn ich das Bedürfnis danach hatte. Auch das erbrachte jedoch nicht die erhoffte Auflösung der inneren Spannungen.

Dennoch gelangte ich in dieser Zeit an einen Wendepunkt. Nach einer Woche, in der ich nur noch Stillstand, Energielosigkeit und Verzweiflung darüber empfand, kehrte sich der Prozess um, ab da ging es wieder nach außen und ganz langsam in die Welt zurück. Ich hörte mit dem extremen Meditieren auf, verlegte mich stattdessen mehr auf Jogging und körperliche Übungen und empfand große Befriedigung bei einfacher handwerklicher Betätigung.

Körperlich hatte ich meistens starke Muskelschmerzen, abwechselnd in allen Muskelgruppen, die es gibt. Es fühlte sich an, als ob der Körper die im Geist vollzogene Hingabe nicht mitmachen will, sondern krampfhaft an irgendetwas festhält. Im Sommer 2001 gab es auch hier eine Wende. Ich war allein und wurde zunehmend von schrecklichen Angstzuständen eingeholt, bis ich eines Abends am ganzen Körper zitterte, nur noch mit den Zähnen klapperte und mit dem Gedanken “dein Wille geschehe…” in irgendeine Art von Loslassen einwilligte. Ich bekam dann hohes Fieber, das nach einer durchwachten und durchschwitzten Nacht wieder vorbei war. Ab da kam wieder so etwas wie ein “Wille” zurück und die Muskelverspannungen lockerten sich. Ich konnte mich wieder bewusst der Welt zuwenden – in kleinen Schritten.

Nach Joan Harrigan (2002) folgt auf die erste Erfahrung der Einheit eine bewusste und übende Vertiefung der Erfahrungen, bis aus den anfänglichen Gipfelerfahrungen Plateauerfahrungen werden. Danach geht der Kundalini-Prozess in ein fortgeschrittenes Stadium über (advanced Prozess) (vgl. S. 167). In den meisten Fällen (bis auf eine Ausnahme) steigt die Kundalini-Energie dann wieder hinab ins Wurzelchakra und sucht sich anschließend wiederaufsteigend einen Ort (ein Chakra), an dem sie sich niederlässt.

Jack Kornfield schreibt in seinem Buch „das Tor des Erwachens“, dass nach jeder Ekstase erst mal “schmutzige Wäsche” gewaschen werden muss – “after the ecstasy the laundry”. Er sagt, dass man bei der Rückkehr vom Gipfel oft noch einmal allen Schwierigkeiten begegnet, die schon beim Aufstieg da waren – aber dann ist man aufgefordert, sie wirklich zu lösen.

Frühkindliche Phänomene in solchen Prozessen

Die rasante Kundalini-Auslösung hatte bei mir die Verdrängungsmechanismen von unbewussten (traumatischen) Inhalten meines Unterbewusstseins vollständig ausgeschaltet. In diesen fast drei Wochen innerer Achterbahnfahrt schien alles, was ich je an emotionalem Schmerz erlebt hatte auf einmal in mein Bewusstsein zu drängen. In den folgenden Monaten und Jahren erinnerte ich nach und nach Einzelheiten zu den Traumatisierungen, die wegen ihrer Bedrohlichkeit bis dahin gut unter Verschluss waren. Präpersonale Traumatisierungen und transpersonale Erfahrungen waren lange Jahre gleich- zeitig in der Wahrnehmung – ich deutete das als “Einladung”, die Dinge auseinander zu sortieren.

In den Jahren jedoch, in denen sich mein Prozess in den höheren Chakren (oberhalb des Kehlkopfchakras) bewegte, schien das verletzte “innere Kind” völlig verschwunden zu sein, damals dachte ich für immer! In diesen Bereichen meines Bewusstseins gab es nur unbeschwertes reines und leichtes Sein. Beschwerden verursachte zu dieser Zeit mein schmerzender Körper und die Ängste meines Egos vor seiner vollständigen Auflösung. Der Körper konnte die Erfahrungen noch nicht integrieren, das Ego kämpfte um sein Überleben.

Beim “Wiedereinstieg” in die “niederen” grobstofflichen und menschlichen Sphären meines Daseins (Abstieg der Kundalini-Energie), kamen auch die bis dahin noch unaufgelösten kindlichen Schmerzen wieder. Eine frühkindliche Traumatisierung musste noch im Bewusstsein auftauchen und durchgearbeitet werden, bis eine dauerhafte Aussöhnung stattfinden konnte.

Nach A.H. Almaas (2004) ist das Ausmaß an frühkindlicher Traumatisierung (Erfahrungen, die das Grundvertrauen beschädigt haben) ein wesentlicher Faktor dafür, ob Transformationsprozesse als besonders schwierig empfunden werden. Fehlendes Urvertrauen führt nach seiner Auffassung zu einem beschädigten Vertrauen der Seele in die haltenden Qualitäten des Universums. Der Mangel an frühkindlichem Gehalten-Worden-sein, macht sich in tiefen Ängsten vor den Abgründen der eigenen Seele und der eigenen inneren Erfahrung bemerkbar.

Der Schlussstein – Wiederaufstieg der Kundalini (2005)

In den Jahren des bewussten Wiederabstiegs hatte ich keinerlei Gipfelerfahrungen oder Plateauerlebnisse mehr. Allerdings war mir die dauerhafte Verbindung mit meiner inneren Quelle ständig bewusst. Das sollte sich ändern, als sich die “Fahrtrichtung” des inneren Prozesses wieder umkehrte.

Ich empfand diesen Aufstieg als rasanten energetischen Prozess, der innerhalb weniger Stunden geschah. Dabei erlebte ich eine Inflation von Intuitionen und Hellsichtigkeiten. Danach war ich etwa zwei Wochen lang hyperaktiv, brauchte ganz wenig Schlaf und schrieb ständig irgendwelche neuen Erkenntnisse auf. In dieser Zeit stellten sich wieder ganz von alleine Gipfelerfahrungen ein, am eindrucksvollsten war die Erfahrung des völligen Aufgehens in der umgebenden Materie – das Gefühl von Raum verschwand völlig.

Nach Joan Harrigan geschieht der Wiederaufstieg im direkten Kanal (Brahma-Nadi), wo keinerlei Blockaden mehr zu beseitigen sind.

Wie immer in all den Jahren brauchten diese extremen Erfahrungen eine monatelange Aufarbeitungszeit. Diesmal war ich vor allem ständig krank und hatte alle möglichen physischen Sensationen – mein Körper schien sich zu reinigen. Außerdem wurde der Blick “auf den Marktplatz” immer stärker, die Fragen des inneren Auftrags, der “eigenen Mission” stellten sich deutlich. Damit scheinen die inneren Turbulenzen nun zur Ruhe gekommen zu sein und in einen Weg nach außen zu münden.

Jede spirituelle Reise führt irgendwann wieder zurück in die Welt. Bei diesem Schritt lässt der Reisende alle magischen und besonderen Erfahrungen hinter sich und kehrt zurück in die Schlichtheit und Gewöhnlichkeit des ganz normalen Lebens.  Die alltäglichen Dinge sind einfacher und unkomplizierter geworden, der Drang irgendwo hin zu müssen, etwas erreichen oder haben zu müssen, hat aufgehört. In den Ochsenbildern des Zen-Buddhismus liest sich das so:

„Die Tür seiner Hütte ist verschlossen, und selbst der Weiseste kann ihn nicht ausfindig machen. Die Gefilde seines Innern sind tief verborgen. Er geht seinen Weg und folgt nicht den Schritten früherer Weiser. Er kommt mit der Kürbisflasche auf den Markt und kehrt mit seinem Stab in die Hütte zu- rück. Schankwirte und Fischhändler führt er auf den Weg, ein Buddha zu werden.“ (Kapleau, 1987)

Mein Lieblingslehrer Jack Kornfield drückt es so aus:

„Aber nun können wir als ein Boddhisattva reisen, als einer, der das Gelände von Leben und Tod durchschritten hat und es so gut versteht, dass er auf eine ganz neue Weise frei sein und aus dieser Freiheit tiefe Weisheit und ein Herz voller Verständnis und Mitgefühl in eine Welt bringen kann, die das so sehr braucht.“ in: Grof S. & Grof C. 1990, S.203

Marion (2006)

Abb. Aus Kapleau (1987):

Literatur:

Almaas, A. H.: Facetten der Einheit. Das Enneagramm der Heiligen Ideen. Zwickau, Kamphausen, 2004

Grof, S. & Grof, C.: Spirituelle Krisen – Chancen der Selbst- findung. München, Kösel 1990

Hakuin Zenji, Yasen Kanna, Translated by R.D.M. Shaw and Wilhelm Schiffer, S.J. Aus: www.wege-zur-erleuchtung.de

Harrigan, Joan: Kundalini Vidya – The Science of Spiritual Transformation. A Comprehensive System for Understanding and Guiding Spiritual Development. Knoxville, TN: Patanjali Kundalini Yoga Care.Fifth Edition, August 2002

Kapleau, Philip: Die drei Pfeiler des Zen. Bern: O.W. Barth, 1987, 7.Aufl.

Kornfield, Jack: Das Tor des Erwachens. Wie Erleuchtung das tägliche Leben verändert. München, Kösel, 2001