Schamanismus versus Schulmedizin

Wie heilt der Schamanismus im Vergleich zur Schulmedizin?

Der Schamanismus ist das älteste Heilsystem der Menschheit und vermutlich der Vorläufer aller Religionen, sagt die Psychologin Dr. Kerstin Neumann. Sie wendet es selbst mit Erfolg an, in Ergänzung zur westlichen Schulmedizin

Der Schamanismus ist sehr viel älter als alle Weltreligionen. Höhlenzeichnungen aus der Steinzeit zeugen bereits von schamanischen Ritualen. Archäologen schätzen, dass der Schamanismus mindestens 40.000 Jahre alt ist. Andere Quellen berichten, dass die Technik des Schamanismus, in veränderte Bewusstseinszustände einzutreten, etwa 60.000 Jahre alt ist und früher weltweit verbreitet war.

Die Heiltradition des Schamanismus stellt somit das älteste Heilsystem der Menschheitsgeschichte dar und bildet auch die Wurzel von geschichtlich jüngeren Heilmethoden wie beispielsweise der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) oder der Ayurvedischen Heilkunst.

Der ursprüngliche Schamanismus ist heute nahezu ausgerottet. Durch den europäischen Kolonialismus und die die Eroberer begleitenden Missionare verbreitete sich bei den indigenen Kulturen ein neues Gedankengut, das zur Folge hatte, dass die Weltsicht der nativen Völker zusammenbrach. Schamanismus ist immer mit den Mythen vom Ursprung und den kosmologischen Vorstellungen (Unterwelt, Mittelwelt, Oberwelt) einer ethnischen Gesellschaft verbunden, mit deren Gesellschaftsordnung und Lebensgewohnheiten und ebenso mit der Landschaft, den Pflanzen und den Tieren des Lebensraumes.

Dennoch hat die schamanische Heilarbeit überlebt und wird auch heute noch praktiziert. Sie wird bis zum heutigen Tag von fast allen nativen Völkern ausgeübt – derzeit existieren immerhin noch mehr als 300 Millionen indigene Menschen auf der Erde. Vor allem in Asien und Südamerika blieb die schamanische Heilkunst bis heute lebendig.

Zurück zu den Wurzeln

Neben diesem traditionellen Schamanismus entwickelte sich in Kulturen, in denen diese Wurzeln längst vergessen waren, in den letzten Jahrzehnten eine neue Form von Schamanismus. Man spricht deshalb auch oft von »Neo-Schamanismus«.

Wenn man sich mit Schamanismus auseinandersetzt, ist es auch immer eine Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln, denn wir alle stammen aus schamanischen Kulturen. Der Schamanismus wurde nicht »importiert«, er ist unsere ureigenste Wurzel. In unserer Kultur ging das schamanische Wissen jedoch durch religiöse Intoleranz und soziale, politische und industrielle Veränderungen verloren. Dieser Wandel hatte zur Folge, dass unsere Vorfahren und somit auch wir immer mehr »verstädterten« und von unseren schamanischen Wurzeln abgeschnitten wurden.

In den westlichen Industriegesellschaften ist derzeit ein großes Interesse am Schamanismus zu verzeichnen. Im Jahr 2000 fand erstmals ein großer Weltkongress »Schamanismus im neuen Jahrtausend« in Deutschland statt, über den sogar die Tagesschau der ZDF berichtete. Kleinere Kongresse gab es bereits früher. Workshops zu diesem Thema boomen.

Der Schamane, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den Anthropologen noch als »geistesgestört« betrachtet wurde und Mitte des 20. Jahrhunderts zum Psychotherapeuten und Ordnungsstifter avancierte, bekam in den 70er Jahren eine noch größere Aufwertung. Er wurde als Spezialist gesehen, der verschiedene Rollen inne hat: Arzt, Apotheker, Psychotherapeut, Soziologe, Philosoph, Rechtsanwalt, Astrologe, Künstler und Priester. Eine weitere zentrale Aufgabe der Schamanen liegt in ihrer Funktion als Bewahrer und Vermittler von traditionellem Wissen um die Beschaffenheit der Welt. In neuester Zeit wird er oftmals geradezu als »Übermensch« betrachtet.

Neben dieser Glorifizierung des Schamanen gibt es auch viele kritische Stimmen, die schamanische Behandlungsmethoden belächeln oder sie sogar bekämpfen. Oftmals verbirgt sich dahinter eine Scheu vor fremdartigen Behandlungen oder Weltanschauungen oder die Furcht vor Scharlatanerie.

Was ist Schamanismus?

Das Wissen über die Schamanen indigener Völker wurde früher hauptsächlich von Anthropologen zusammengetragen, die den Begriff »Schamanismus« erfanden, um die Praktiken nativer Völker einordnen zu können.

Schamanismus ist die älteste Methode, mit der die Menschen versucht haben, mit der Schöpfung in Verbindung zu treten. Dabei ist Schamanismus keine Religion im herkömmlichen Sinne, da er keine Dogmen und keine heiligen Schriften hat und keine Doktrin verkündet. Einige Forscher meinen, dass er die Basis aller Religionen sei, dass also die schamanische Erfahrung und ihre Visionen Grundlage aller Religionen seien.

Schamanismus basiert nicht auf einem Glauben, sondern stützt sich Erfahrungswissen. Durch seine »Reisen« in veränderte Bewusstseinszustände erfährt der Schamane von anderen Existenzen, von anderen Dimensionen.

Der Schamanismus kann als das naturhafteste aller philosophischen und metaphysischen Systeme bezeichnet werden. Er ist die älteste religiöse, heilkundliche und psychologische Disziplin der Menschheit. Er bewegt sich innerhalb naturgegebener und kosmischer Gesetze und ist Teil der Natur mit ihren jahreszeitlichen und zyklischen Energiemustern. Im Schamanismus wird das beobachtet, was jenseits oder innerhalb der äußerlichen Erscheinungsformen liegt. Somit kann man ihn auch als eine Wissenschaft des Geistes ansehen.

Weltbild

Bei den verschiedenen Kulturen herrscht eine große Übereinstimmung bezüglich des schamanischen Weltbildes. Zunächst gibt es eine sogenannte alltägliche und eine nichtalltägliche Wirklichkeit. Die alltägliche Wirklichkeit kennzeichnet den normalen Bewusstseinszustand mit der entsprechenden normalen Wahrnehmung der Welt. Hierauf bezieht sich die westliche Schulmedizin.

Die nichtalltägliche Wirklichkeit erleben die Schamanen in einem veränderten Bewusstseinszustand. Rhythmische Geräusche von Trommeln oder Rasseln können solche Bewusstseinszustände auslösen, ebenso Gesang oder psychoaktive Substanzen.

In der nichtalltäglichen Wirklichkeit werden drei Welten unterschieden. Symbolisiert werden sie durch den Weltenbaum, der auch in der germanischen und keltischen Kultur zu finden ist: die mittlere Welt, die untere und die obere. Diese drei Welten werden als gleichwertig betrachtet.

Die Schamanen vertreten folgende Annahmen:

  • Es gibt eine Höchste Intelligenz, die hinter allen existierenden Dingen steht. Diese existiert nicht nur außerhalb sondern auch im Inneren der Schöpfung.
  • Alles, was existiert, ist mit allem Anderen innerhalb eines großen universalen Energienetzes verbunden. Dies ermöglicht die Verbindung mit Allem und auch die Kenntnis von allen Dingen und das schamanische Reisen. Es gibt nichts, was isoliert existiert. Der Mensch steht in wechselseitiger Beziehung mit allen anderen Lebensformen.
  • Alles ist lebendig. Menschen, Tiere, Pflanzen und auch Steine sind Bestandteil des Lebens aller und alles Anderen. Und doch hat alles sein eigenes Leben und ist jeweils anders organisiert. Jedes Ding und Wesen dient einem spezifischen Zweck, zu dem es erschaffen wurde und hat ein spezifisches »Bewusstsein«.
  • Es gibt innere Räume der Realität. In diesen inneren Sphären finden sich Helfer, Führer und Lehrer. Diese haben Macht und Kraft und sind in der Lage, eine Veränderung in der Alltagswelt herbeizuführen. Materie und Energie sind eins.Diese Annahmen vertraten unsere Vorfahren sowie alle Stammesgesellschaften und Kulturen der alten Welt. Dem gegenüber steht unsere moderne abendländische Kultur, die sich ganz auf das Beobachtbare bezieht, und eine rein sensorische, nur durch Logik erschließbare Wirklichkeit gelten lässt. Das schamanische Universum ist zyklisch. Unser modernes Weltbild ist linear.

 

Die Berufung zum Schamanen

Während in der westlichen Medizin die Zulassung zur Ausübung der ärztlichen Heilkunst vorwiegend von den Abiturnoten abhängt, gelten bei der schamanischen Berufung andere Bedingungen. Neben der Möglichkeit, die Position des Schamanen zu erben, gibt es die klassische Berufung oder Initiation zum Schamanen (Schamanenkrankheit); oft ist sie mit einer jahrelangen Leidenszeit verbunden.

In der Pubertät oder danach, manchmal auch erst im Alter, bricht beim Anwärter das Nervensystem zusammen. Untypische Krankheitsbilder können entstehen, extremes Leiden, das auch manchmal Ähnlichkeiten mit einer Schizophrenie oder Epilepsie aufweist. Meist werden diese Menschen für geistig gestört oder verrückt erklärt. Manchmal werden sie aber auch verehrt, da man meint, es handle sich bei einem solchen Menschen um einen zukünftigen mächtigen Schamanen. Das ist von der jeweiligen Kultur abhängig.

Die Heiler diagnostizieren, ob es sich um eine sakrale Berufung handelt oder um eine gewöhnliche Erkrankung. Viele Auserwählte wehren sich gegen diese Berufung, da sie meistens mit Opfern und Entsagungen und mit einem ungewöhnlichen Lebensstil verbunden ist.

Bei der Schamanenkrankheit stellt sich der Organismus auf allen Ebenen um. Es kommt dabei zu einer physiologischen und psychologischen Wandlung, die zu einer besonderen Psychophysiologie des Schamanen führt. Sein biologisches Reaktionsvermögen ist erhöht. Oft kann er unsichtbare Vorgänge im Umkreis des eigenen Körpers und in größerer Entfernung erkennen. Er ist dadurch in der Lage, Menschen übersinnlich wahrzunehmen, das heißt, er ist in der Lage zu »sehen«, wie mit einem Röntgengerät und kann die Raum-Zeit-Barriere überspringen. Die Empfindsamkeit der Psyche ist erhöht, und er ist in der Lage, die eigenen biochemischen Vorgänge zu beeinflussen. Letztendlich führt diese Krankheit zur Gesundung, die scheinbare Verrücktheit zu seelischem Wohlbefinden, einem Zuwachs an Kräften und Fähigkeiten und zu einer Bewusstseinserweiterung, das heißt einer erweiterten Weltsicht und Selbsterkenntnis. Der Schamane geht aus dieser Erfahrung als neuer Mensch hervor.

Konditionierungen, Konflikte, Gewohnheiten und alte Strukturen wurden aufgelöst und eine neue Identität geboren. Er kann sich nun den Aufgaben als Schamane stellen. Die Krankheitsgeister und Dämonen, die ihm dabei zugesetzt haben, sind nun seine Hilfsgeister und Verbündeten. Mit ihnen kann er heilen.

Nachdem die Krise überwunden ist, geht es darum, mit den Kräften umgehen zu lernen, sie zu stabilisieren, neu auszurichten und in die Kosmologie und Mythologie der jeweiligen Kultur eingeführt und eingebunden zu werden. Dabei hilft ihm ein erfahrener Schamane aus der jeweiligen Kultur. Es kommt meist zu einer öffentlichen Prüfung, in der der Schamane seine Fähigkeiten unter Beweis stellt, und er legt einen Schwur ab, diese Fähigkeiten ausschließlich zum Wohle anderer einzusetzen und nicht für persönliche egoistische Zwecke. Er stellt sie in den Dienst der Allgemeinheit, Tag und Nacht, ohne geregelte Arbeitszeiten.

Kennzeichen des Schamanismus

Schamanismus ist kein einheitliches Phänomen. In jedem Kontinent und von jedem nativen Volk wurden unterschiedliche Praktiken und Techniken entwickelt, die sehr kulturspezifisch sind. Es gibt jedoch drei zentrale Kennzeichen des Schamanen, die über alle Kulturen hinweg zu verzeichnen sind:

  • Schamanen sind in der Lage willentlich in veränderte Bewusstseinszustände ein- und auszutreten.
  • Schamanen erleben sich dabei als »Reisende« in andere Welten.
  • Schamanen begeben sich auf diese Reise, um Informationen oder Macht zu erwerben. Sie »reisen«, um Menschen in ihrer Gemeinschaft zu helfen.

Der Schamane wird auch als ein »Wanderer zwischen den Welten« bezeichnet. Das lässt darauf schließen, dass er mit verschiedenen Wirklichkeiten in Kontakt treten kann, mit unterschiedlichen Welten, die neben unserer Welt existieren. Diese Welten durchdringen einander. Der westlich ausgebildete Arzt sieht mit den gewöhnlichen Sinnen lediglich unsere physische Welt.

Der Schamane als Heiler

Dem Schamanismus wurde bereits im Jahr 1980 von der WHO (Weltgesundheitsorganisation) bei der Behandlung von psychosomatischen Erkrankungen dieselbe Bedeutung zuerkannt wie der westlichen Medizin.

Aus dem Blickwinkel des Schamanismus ist ein Mensch dann gesund, wenn er in einem ausgeglichenen Verhältnis zu allen lebenden Dingen steht. Das Fundament des Schamanismus ist die Erhaltung und Bewahrung der eigenen Kraft und Gesundheit. Wenn eine Person krank ist, versucht der Schamane dem Menschen seine Kräfte wieder zurückzugeben, indem er ihn in einen Zustand der Harmonie mit dem Leben zurückversetzt. Heilung umfasst im Schamanismus immer den ganzen Menschen, körperlich, geistig, seelisch sowie eingebettet in einen sozialen Kontext und die umgebende Natur.

Die archaischen Heiltechniken des Schamanismus lösen Probleme oder Krankheiten nicht unbedingt durch gewöhnliches Nachdenken oder spezifische Schemata. Es können dabei auch Trommeln, Rasseln und Gesang zum Einsatz kommen. Der Patient wird gestärkt, so dass er über ausreichend Kraft und Selbstbewusstsein verfügt, um sein Leben selber in die Hand zu nehmen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Kernstück des Schamanismus ist die schamanische Reise, in der der Schamane in einem veränderten Bewusstseinszustand in die unterschiedlichen Welten der nichtalltäglichen Wirklichkeit reist, um Informationen über Ursache und Heilung einer Erkrankung zu erhalten. Auf dieser Reise begegnet er Wesenheiten (Spirits), mit denen er kommunizieren kann. Somit ist es ihm möglich, Wissen und Hilfe bei körperlichen, psychischen und geistigen Heilungen für sich und Andere zu erfahren. Diese Botschaften nimmt er mit in die Alltagswelt und setzt sie dort zum Nutzen seiner Gemeinschaft um. Begebenheiten, auf die der Schamane in den anderen Welten Einfluss nimmt, zeigen in unserem alltäglichen Bereich Auswirkungen.

Bei der schamanischen Heilarbeit fließt in unterschiedlicher Art und Weise die »Medizin« von Bäumen, Pflanzen, Steinen, Kraftplätzen, den Elementen (Wasser, Luft, Feuer, Erde) und den Himmelsrichtungen ein.

Weitere Behandlungsmethoden sind z.B. Rituale. Sie dienen dazu, innere Prozesse durch rituelle Handlungen außen sichtbar zu machen. Die stille Sprache der Symbolik fördert das Verstehen und Verarbeiten auf einer tieferen Ebene. Je nach Anlass werden unterschiedliche Rituale durchgeführt und teilweise auch neu gestaltet. So gibt es beispielsweise Reinigungsrituale wie Räuchern oder die Schwitzhütte, Heilungsrituale, Initiationsrituale oder auch Schwellenrituale wie die Visionssuche, in der der Teilnehmer drei bis vier Tage fastend in der Natur alleine verbringt, um sich mit seinen Kräften zu verbinden.

Darüber hinaus gibt es weitere Heilverfahren, die je nach Problem zur Anwendung kommen. Im Folgenden sind ein paar Beispiele genannt, wie Schamanen im Unterschied zur westlichen Medizin an Probleme herangehen.

Schamanische Wege

Bei Entscheidungsschwierigkeiten oder um Probleme zu lösen, könnte beispielsweise die traditionelle schamanische Methode des Steinorakels angewendet werden. Der Klient geht hierbei hinaus in die Natur, formuliert innerlich seine Frage und lässt sich von einem Stein finden. Dann stellt der Klient die Frage allen Richtungen des Steins. Er betrachtet den Stein, Seite für Seite und versucht auf der Oberfläche so viele Bilder wie möglich zu entdecken. Der Klient bringt nun die Bilder des Steins mit seiner Frage zusammen und extrahiert aus den Bildern eine Antwort.

Die westliche Psychologie würde diese Technik unter die »projektiven Verfahren« einordnen, da der Klient sein Innenleben sozusagen auf den Stein projiziert, um Erkenntnis zu erlangen. Ein Schamane würde vielleicht sagen, dass der Stein als ein Verbündeter zu dem hilfesuchenden Menschen gekommen ist. Der Stein konnte über seine Fähigkeit, dem Klienten Bilder zu zeigen, mit diesem kommunizieren. Auf diese Art und Weise kann er mit dem Rat suchenden Menschen sprechen. Steine sind natürlich der menschlichen Sprache nicht mächtig. Aber wenn man sich auf die Steine einstimmt, kann man von ihnen Informationen geschenkt bekommen, die helfen persönliche Probleme zu lösen. Schamanen betrachten diese heilenden Bilder des Steines als Geschenk und drücken ihm dafür ihre Dankbarkeit aus.

Bei mangelndem Selbstbewusstsein und den damit einhergehenden Schwierigkeiten im sozialen Bereich würde die schamanische Diagnose »Kraft-Verlust« lauten. Die Heilung liegt hier beispielsweise darin, dass der Klient, um seine Kraft wieder herzustellen, ein Krafttier eingeblasen bekommt, das aus der nichtalltäglichen Wirklichkeit geholt wird.

Eine heftige Infektion könnte ein Hinweis auf ein geschwächtes Krafttier des Patienten sein. Hier würde der Schamane das Krafttier stärken.

Bei chronischen Erkrankungen, Süchten oder generell bei psychischen Erkrankungen liegt nach schamanischer Sichtweise oftmals ein Seelenverlust zugrunde. Aufgrund eines traumatischen Ereignisses hat sich ein Seelenanteil abgespalten, um sich zu schützen. Dieser steht dem Patienten nicht mehr zur Verfügung. Der Schamane geht auf eine schamanische Reise, um den verlorenen Seelenanteil des Patienten zurückzuholen.

Wenn ein Tabu verletzt wurde oder etwas aus der natürlichen Ordnung gefallen ist (was z.B. die Ursache für eine Erkrankung sein kann), könnte der Schamane eine Aufstellungsarbeit machen, um die Ordnung wieder herzustellen. Aufstellungsarbeiten sind mittlerweile auch in die westliche Heilarbeit integriert worden, nachdem Hellinger dieses Heilungssystem von den Naturvölkern in den Westen brachte. In Deutschland ist diese Art der Heilungsarbeit unter dem Begriff »Familienstellen« bekannt geworden.

Im Schamanismus gelten Fälle von Synchronizität als ein Zeichen von Gesundheit. Wenn der Schamane beispielsweise dem Patienten ein Krafttier aus der nichtalltäglichen Wirklichkeit geholt hat, und ihm kurze Zeit später das Krafttier in der Realität begegnet, so wird dies als Zeichen eines Gesundungsprozesses gewertet.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die schamanische Heilkunde im Gegensatz zur Schulmedizin einem kranken Organismus und dem ihm innewohnenden Geist Energien, Schwingungen und Informationen zufügt, um so psychische und körperliche Disharmonien auszugleichen und damit eine Selbstheilung einzuleiten.

Ausblick

Im traditionellen Schamanismus wird meist in Anwesenheit der gesamten Familie oder des Stammes geheilt. In der modernen westlichen Welt ist das oft nicht möglich. Aber der Schamanismus verfügt über Techniken, die sehr wirkungsvoll und effektiv sind, um in der industrialisierten Gesellschaft effizient arbeiten zu können. Eine sehr effektive Methode stellt das schamanische Reisen dar. Es ist auch möglich, Verbindungen zu schaffen mit den verschiedenen Lebensformen in unserer natürlichen Umgebung. Dazu gehört auch, die Menschen wieder mehr für ihre natürliche Umgebung zu sensibilisieren und sich mit der Natur zu verbinden. Das gilt natürlich insbesondere für Stadtmenschen.

In der Weltsicht des Schamanismus wird die Gesundheit durch eine ausgeglichene Beziehung zu der Heimat des jeweiligen Menschen und dem dortigen Ökosystem bestimmt. In dieser Beziehung besteht eine Wechselwirkung. Ist die Beziehung ausgeglichen, werden dadurch sowohl der Mensch als auch das Ökosystem gestärkt. So können beide erhalten und lebendig bleiben.

Wenn die Welt schamanisch erlebt wird, verbindet sich der Mensch mit seinen Wurzeln, mit der Erde und dem Geist. Sein Bewusstsein erweitert sich, sein Blickwinkel wird größer. Sein Gefühl vertieft sich, und es ist ihm möglich, die Wesen unter den Oberflächen zu sehen. Er ist in der Lage, seine Verbindung zu anderen Menschen, Tieren, Pflanzen, überhaupt der Natur und dem Kosmos zu fühlen. Dadurch kann er zu einem friedlicheren und liebevolleren Umgang mit seiner Umgebung kommen und ein achtsames Mitglied im großen Kreis alles Lebendigen werden.

Wünschenswert ist eine Annäherung der Schulmedizin und des Schamanismus mit gegenseitigem Respekt und Wertschätzung. So wie etwa das vor zwei Jahren gestartete Pilotprojekt in Wien, die »Ärztlich-Schamanische Ambulanz für Krebsbetroffene« es tut. Hier kämpfen beide Traditionen nicht gegeneinander, sondern setzen sich gemeinsam mit ihren jeweiligen Kräften und Möglichkeiten für die Patienten ein.

Übrigens war das Heilen nicht nur bei den schamanischen Völkern rund um die Erde, sondern auch in allen Hochkulturen, insbesondere bei den alten Griechen, mit dem Gebrauch intuitiver, hellsichtiger und spiritueller Kräfte verbunden. Ausführlich wurde das bei Hippokrates beschrieben, auf dessen Eid sich auch unsere heutigen Ärzte berufen.

Interessanterweise galten bei den Griechen die intuitiv begabten und hellsichtigen Ärzte als die wahren Vertreter der Heilkunst. Wer lediglich technisch und verstandesmäßig arbeitete, galt als Scharlatan.

Von Kerstin Neumann  (der Text erschien ursprünglich in der Zeitschrift “Connection/Schamanismus 3”, 2010)