Persönlicher und fachlicher Hintergrund
Meine Beschäftigung mit diesem Thema begann 1993 mit den ersten Anzeichen einer eigenen transformatorischen Krise, die Anfang des Jahres 1994 sehr heftig zum Ausbruch kam und ab da zu einschneidenden Veränderungen in meinen Denkgewohnheiten und meiner Lebensweise führte, die bis heute andauern. Ich erlebte diesen Beginn als eine Art Initiation in die weiten Bereiche mystischer Erfahrungswelten. Seitdem fühle ich mich auf einem bewussten spirituellen Weg, mit zwischendrin sehr stürmischen Phasen, die immer wieder von ruhigeren Etappen abgelöst wurden. Angekommen bin ich dabei auf sehr viel tiefere Weise in mir selbst und gleichzeitig scheint mir das Auf-dem-Weg-Bleiben letztendlich meine (Entwicklungs-)Aufgabe und der Sinn in diesem Leben zu sein. Da ich (approbierte) psychologische Psychotherapeutin mit humanistischem Schwerpunkt (Focusing) bin, habe ich meinen eigenen Prozess natürlich auch ständig mit fachlichen Augen begleitet.
Der eigene Weg führte mich durch ein langes Retreat (1997-2003), das ich zurückgezogen im häuslichen Umfeld, neben der Betreuung meiner heranwachsenden Kinder und unter der geistlichen Begleitung einer katholischen Ordensschwester, weitgehend autodidaktisch gestaltete. Danach eröffnete ich wieder eine psychotherapeutische Praxis. Ich nenne sie jetzt „transpersonal“, und habe auf eine Kassenzulassung verzichtet. Als ich wieder zu arbeiten begann, ließ ich mich in die TherapeutInnen-Liste des SEN (Spiritual Emergence Network) aufnehmen, erstellte eine Seite zum Thema „Spirituelle Krisen“ für meine Website und initiierte mit anderen zusammen – u.a. meinem Ehe-Mann, der Arbeitslosenseelsorger in der katholischen Kirche ist – eine Selbsthilfe-Initiative für Menschen in spirituellen Krisen und Transformationsprozessen. Auf diesem Hintergrund und mittlerweile fünf Jahren praktischer Erfahrung in der Betreuung von Menschen in solchen Krisen, sind die folgenden Ausführungen zu verstehen.
Das Wissen um Glaubens- und spirituelle Krisen ist in allen religiösen Traditionen einerseits uralt, die Verwendung der Begrifflichkeit „Spirituelle Krise“ im psychologischen und psychotherapeutischen Kontext hingegen noch sehr jung. Sie wurde dort erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts eingeführt (vgl. Grof&Grof, 1990, 1991, Luckoff, 1998). Bei der praktischen und theoretischen Ausarbeitung dieses Konzepts stehen wir hier also noch mehr oder weniger am Anfang. In der ganz konkreten alltäglichen Arbeit suchen und forschen meine KollegInnen und ich noch sehr, was hilfreich und unterstützend ist und welche fachlichen Konzepte dafür zu gebrauchen sind. Ich selbst lehne mich dabei eng an meinen humanistisch-psychologischen Hintergrund an, der mittlerweile die Beschäftigung mit Konzepten aus der transpersonalen Psychologie einschließt. Darüber hinaus habe ich mich mit verschiedenen Kundalini-Modellen auseinander gesetzt, mit dem Schamanismus ein wenig befasst und durch Lektüre, Meditationspraxis und enge Freunde, auch einen gewissen Einblick in buddhistische Erklärungszusammenhänge bekommen. Am nächsten ist mir dort die buddhistische Psychologie des Vipassana-Meditationslehrers Jack Kornfield.
Diagnostik von Spirituellen Krisen
Das Allerwichtigste im Zusammenhang mit der Diagnostik von spirituellen Krisen ist nach meinem Empfinden, dass man dem Menschen, der zu einem kommt glaubt, was er/sie sagt und nicht vorschnell eine Umdeutung vornimmt. Ganz egal, ob die Person von Dämonen erzählt, die auftauchen, von Lichterscheinungen, die sie sieht, oder sogar (Engels-)Stimmen, die sie hört, das ist alles ihr Erleben, das sich für diesen Menschen genau so darstellt und anfühlt, wie er es mir schildert ( – wenn er sich traut, da das gesellschaftliche Tabu hier sehr wirksam ist!).
Als klinisch geschulte PsychotherapeutInnen sind wir (durch psychiatrische Diagnoseschlüssel) darauf geeicht, tendenziell alle solchen Schilderungen negativ und pathologisierend zu bewerten. Damit werden wir den Menschen vor uns aber nicht gerecht. Diese Art des Vorgehens wurde uns beigebracht, um innerhalb eines gesellschaftlich etablierten Gesundheitssystems ein Krankheitsgeschehen ausfindig zu machen und zu benennen. Sie ist völlig ungeeignet, um ein Leiden zu erfassen, das aufgrund transpersonaler Erfahrungen entstanden ist. Wie schon Graf Dürckheim sagte: “Nichts ist schrecklicher und heilloser, als in einer solchen Situation sich einem Menschen anvertraut zu haben, der, weil er selbst diese Erfahrung nicht kennt, das hier Geschehene fehldeutet, z. B. die Wesenserfahrung als Ich-Aufblähung” (1991, S.225f.) Oder wenn, wie ich anfügen möchte, ein Leiden, das Ausdruck einer stürmischen inneren Entwicklung ist, als Krankheit oder Entwicklungsstörung gedeutet wird.
Selbstverständlich bilde ich mir als Fachkraft darüber hinaus trotzdem noch eine eigene Meinung, welcher Art die geschilderte Störung ist, und was die beste Unterstützungsmöglichkeit für den jeweiligen Klienten/die Klientin sein könnte. Bei der Differentialdiagnostik stütze ich mich persönlich auf die von Brunnhuber/Wagner, 2006, in der „Zeitschrift für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie“ vorgeschlagene Dreiteilung in präpersonale, personale und transpersonale Entwicklungsprozesse.
Transpersonale Entwicklungsprozesse bzw. „echte spirituelle Krisen“ nach dieser Diagnostik sind Entwicklungsprozesse, die grundsätzlich einem natürlichen inneren Ablauf folgen – sie werden von innen her geführt. Von dieser Führung wird auch meist in irgendeiner Form berichtet. Manche Menschen beziehen sich dabei mehr auf „innere Meister“ oder „Heiler“, mit denen sie in Kontakt stehen, andere wiederum (das hängt sehr stark von der religiösen Sozialisation ab) fühlen sich von Christus, oder einfach nur einem „weißen Licht“, geführt und begleitet. Es können sehr „stürmische Entwicklungen“ sein (wie z.B. auch in der Pubertät). Sie können aber auch ruhiger verlaufen, dann nehmen sie sich meist mehr Zeit. Bei den meisten Menschen treten unterwegs immer wieder Pausen ein, es gibt längere (manchmal jahrelange) Plateauphasen, die irgendwann wieder in den nächsten (Weiterentwicklungs-)Schub übergehen. Im Verlauf dieser Prozesse begegnet man irgendwann allen ungelösten biographischen (aber auch überindividuellen karmischen) Prägungen und Traumen. Es konstellieren sich (durch die karmischen Gesetze von Ursache und Wirkung) immer wieder Wiederholungserfahrungen, die die Person mit ihren eigenen Ungelöstheiten konfrontieren und vor neue Aufgaben stellen.
Wirkungsvolle Unterstützung solcher Prozesse
Nach dem bekannten US-amerikanischen Entwicklungsforscher Robert Kegan ist das Wichtigste für natürliche Entwicklungsprozesse, dass sie eine sog. einbindende Kultur bekommen. Diese einbindende Kultur hat nach Kegan verschiedene Funktionen: Sie bestätigt (spiegelt) die Entwicklung, leistet Widerstand, damit das Alte losgelassen werden kann, und bleibt „in der Nähe“, damit das Neue re-integriert werden kann.
In natürlichen Entwicklungsprozessen besteht diese einbindende Kultur normalerweise aus Personen, die diese Entwicklungen schon durchlaufen haben. In der Kindheit sind das natürlich die älteren Geschwister, Eltern und später andere Erwachsene. Jeder, der selbst eine Pubertät hinter sich gebracht hat, hat ein gewisses Verständnis für „pubertierende Jugendliche“. Wenn hingegen Erwachsene plötzlich komisch werden, z.B. ihre Arbeit aufhören, stattdessen meditieren gehen, usw. …, dann hat unsere Leistungsgesellschaft dafür wenig Verständnis. Sie schickt diejenigen, die komisch sind, in Therapie, damit sie wieder an gesellschaftliche Normen angepasst werden.
Ein solches gesellschaftliches Umfeld verstärkt meines Erachtens das Krisenhafte an den Krisen massiv. Zu den inneren Umbrüchen, mit denen der Mensch fertig werden muss, kommt noch ständig der Rechtfertigungsdruck gegenüber der Außenwelt, warum man nicht mehr „normal“ funktioniert. Wenn es Niemanden im eigenen Umfeld gibt, der da ein Verständnis aufbringen kann, dann kann das bis zum geplanten oder sogar durchgeführten Suizid gehen. Die meisten Menschen erleben einen solchen Prozess, der über manche Strecken alle Grenzen des Erträglichen zu überschreiten scheint, aber Gott-sei-Dank so, dass im richtigen Moment immer auch die richtige Hilfe zur Stelle ist.
Über die menschliche Einbindung hinaus ist es natürlich auch wichtig, Deutungs- und Verständnismodelle dafür zu finden, was sich innerlich gerade bewegt. Ohne irgendein philosophisches, metaphysisches oder religiöses „System“ geht es hier nicht; viele Menschen finden hier aber auch mehrere Konzepte gleichzeitig nützlich.
Die Rolle von professionellen BegleiterInnen
Neben dem (hoffentlich!) stützenden und verständnisvollen privaten Umfeld, macht es in solchen Prozessen natürlich auch Sinn, professionelle therapeutische bzw. spirituelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
PsychotherapeutInnen sind jedoch in ihrer Arbeit sehr häufig damit beschäftigt, „kranke Leute“, PatientInnen, wieder funktionstüchtig zu machen. Das ist genau das, was bei spirituellen Krisen kontraproduktiv ist, da es ja immer um ein Loslassen alter Seins- und Funktionsweisen und eine Öffnung nach Innen geht. Es ist aber durchaus so, dass es Blockaden in den natürlichen Verläufen von Transformationsprozessen geben kann, die einer therapeutischen Auflösung bedürfen. Da kann auch ganz normale Therapie, z.B. Trauma-Arbeit oder Körperarbeit, nützlich und sinnvoll sein. In der Regel weiß der/die Betroffene das intuitiv sehr gut, wann er/sie welche Hilfe in Anspruch nehmen will. Manche Traumata lösen sich auch durch Meditation (z.B. Vipassana) besser auf als durch Psychotherapie.
Das Wichtigste bei einer solchen therapeutischen oder seelsorgerischen (spirituellen) Begleitung ist meines Erachtens, dass sich der Begleiter/die Begleiterin bewusst darüber ist, dass die Unterstützung im Kontext eines spirituellen Transformationsprozesses bzw. transpersonalen Entwicklungsprozesses im Erwachsenenalter stattfindet. In solchen Prozessen verhalten sich die Menschen sehr eigenwillig und autonom (entsprechend ihrer inneren Führung) und treffen häufig abrupte Entscheidungen. Da kann z.B. plötzlich innerlich etwas aufgelöst sein und dann kommt der Klient/die Klientin nicht mehr in die nächste Stunde – macht ja auch keinen Sinn mehr.
Solche Verhaltensweisen werden im klassisch psychotherapeutischen Vorgehen in der Regel als Widerstand gedeutet, sie könnten aber auch transpersonal/spirituell als Auftauchen des Egos bezeichnet werden.
Demütige Haltung des Begleiters/der Begleiterin
Hier ist nach meiner Erfahrung vor allem die Demut des Begleitenden gefragt: Grundsätzlich ist beim Erkennen von Widerstands- und Ego-Phänomenen immer auch davon auszugehen, dass das eigene Ego darauf reagiert. Aus einer systemtheoretischen Perspektive heraus gibt es keine Verwicklungen, an der nicht mindestens zwei Parteien beteiligt sind. Wenn man sich selbst „weiser“ oder „weiter“ als der andere fühlt, dann ist besondere Achtsamkeit geboten.
Wie passt das nun mit den folgenden Überlegungen zusammen? Ich habe in meiner personzentrierten Ausbildung gelernt, dass ein Therapeut/eine Therapeutin ihrem Klienten/ihrer Klientin immer mindestens einen Schritt in ihrer eigenen Persönlichkeits-Entwicklung voraus sein sollte, damit sinnvolle Begleitung stattfinden kann. Wenn das nicht der Fall sei, dann könne keine professionelle Hilfe geleistet werden.
In seriösen spirituellen Traditionen ist das selbstverständlich, dass nur ein „verwirklichter Meister“ durch die extremen Auflösungsstadien der Ich-Identität hindurch begleiten kann. Wenn dieser Vorsprung nicht gegeben ist, dann wird das Neue, das da geboren werden möchte, immer (ein wenig) falsch interpretiert: Deutungen finden im eigenen Bezugssystem statt, wenn man das (durch die spirituelle Öffnung) erweiterte Bezugssystem selbst nicht hat, passt man die gemachten Beobachtungen schnell an den eigenen engeren Rahmen an. So entstehen im äußersten Falle Pathologisierungen und Abwertungen von Phänomenen, die eigentlich zutiefst heilig und gesund sind.
Ich plädiere an dieser Stelle – gerade wenn man sich unsicher ist – dafür, eine radikal personzentrierte Begleitungshaltung einzunehmen. Im Focusing beschreiben wir sie neben den von Carl Rogers (Begründer des klientenzentrierten Ansatzes) formulierten Variablen Akzeptanz, Echtheit (Kongruenz) und Empathie noch mit den Begriffen Achtsamkeit und Absichtslosigkeit. Wir üben uns also in Bewertungsfreiheit und versuchen, so authentisch wie möglich in unseren Reaktionen zu sein. Mit der Empathie ist das so eine Sache! Spirituelle Erfahrungen sind äußerst schwierig bis gar nicht einzufühlen, sie erzeugen beim Gegenüber keine emotionale innere Resonanz. Mit der Zeit lernt man aber dafür völlig neue, vorher nicht wahrgenommene innere Schwingungen wahrzunehmen und zu erkennen. Ich kann hier nur versuchen, sie zu umschreiben mit Begriffen wie „heilige Momente“, „die ewige Stille“ oder „das Singen von Engelschören“.
Wenn man selbst ein gesundes Ur-Vertrauen hat, dann ist es leicht, an die uneingeschränkte Führung von Innen bei diesen Prozessen zu glauben. Wenn in extrem schwierigen Zeiten dieses Vertrauen einmal ins Wanken gerät, macht es Sinn, sich in Absichtslosigkeit zu üben. Ich persönlich fand es sehr unterstützend, dass meine spirituelle Begleiterin in solchen Situationen unsere Sitzungen meistens mit dem Satz beendete: „Ich werde für Dich beten“.
Marianne Gallen
Kontakt zur Autorin: https://gallen-praxis.de
Literatur:
Brunnhuber S. & Wagner, R. (2006): Zur Differentialdiagnostik Spiritueller Krisen. In: Zeitschrift für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1.
Gendlin, E. T., Wiltschko, J. (1999, 20073): Focusing in der Praxis. Klett-Cotta
Graf Dürckheim, K.: Vom doppelten Ursprung des Menschen. Neuausgabe, Freiburg, 1991
Grof, C.& Grof, S.: Die stürmische Suche nach dem Selbst. München, 1991.
Grof, S.& Grof, C.: Spirituelle Krisen. Chancen der Selbstfindung. München, 1990.
Kegan, R. (2003) In: WIE-Was ist Erleuchtung 8: Bist du bereit, dich jetzt zu ändern? Zur Dynamik
menschlicher Transformation.
Kegan, R. (1986) Die Entwicklungsstufen des Selbst. München: Kindt.
Kornfield, J. (2008), The Wise Heart. A Guide to the Universal Teachings of Buddhist Psychology. New York: Bantam.
Lukoff, D. (1998) From Spiritual Emergency to Spiritual Problem: The Transpersonal Roots of the New DSM-IV Category. Journal of Humanistic Psychology, 38(2), 21-50.
Rogers, Carl (1959): A theory of therapy, personality and interpersonal relationships as developed in client-centered framework. McGraw Hill, New York.
Erschienen in:
Connection-Spirit 3/09:
und
Zeitschrift für Kontemplation und Mystik, 1/2011