Vom Trauma der Erleuchtung

von Matthias Mala

Leseprobe aus:
Irrwege zur Spiritualität. Den Traum der Erleuchtung lösen
Band VII in der Reihe Theurgia BoD-Verlag, Norderstedt 2010, 284 Seiten, 23,90 €

 

 

Seltsamerweise wissen meist die Unerleuchteten sehr genau, welche Meister erleuchtet sind und welche nicht. Scheinbar gibt es dafür Kriterien, die dem Nichterleuchteten offensichtlich sind, während der Erleuchtete sie hinter sich ließ. Jedenfalls behaupten Erleuchtete von sich selbst nur selten, dass sie erleuchtet wären, und tun sie es doch, wird alsbald darüber spekuliert, ob ihre Behauptung womöglich ein Beleg dafür sei, dass sie nicht erleuchtet seien. Also sollten Sie sich, falls Sie Ihre Erleuchtung suchen, besser an die „Abschattigen“ halten. Als abschattig bezeichnet ein Gärtner einen Pflanzort nahe der Schattengrenze. Abschattiges wird also noch von diffusem Licht bestrahlt. Demnach sollte es nicht abwegig sein, dass die Abschattigen ihre Leuchten erkennen. Dreht sich doch auch eine Pflanze an der Schattengrenze oft mit kühnem Bogen dem Licht entgegen. Sprich: Das Geheimnis der Erleuchtung wird bei den Nichterleuchteten bewahrt. Die Sonne hingegen strahlt, ohne sich ihres Strahlens bewusst zu sein. Schließlich ist zu strahlen ihr unreflektierter Seinsgrund. Das Bestrahlte erkennt die Sonne als seine wärmende und nährende Leuchte. Niemals würde es sich ihrem Abglanz im Mond zuwenden. Eine ähnliche Betrachtung wird auch Buddha in den Mund gelegt, der sagte: „Wenn du Erleuchtung suchst, frage die Unerleuchteten, denn nur sie wissen, wer erleuchtet ist.“

Obwohl ich weiß, was mir fehlt, weiß ich nicht das Fehlende!
Heben wir die Ironie noch nicht auf, sondern fragen uns weiter: „Was wissen die Unerleuchteten mehr von der Erleuchtung als die Erleuchteten, sodass sie sagen können, dieses Korn sprosst und jenes nicht?“ Die Antwort ist einfach: Sie sprechen jener Person Erleuchtung zu, die ihren Vorstellungen von Erleuchtung entspricht. Sie ist ihr Idol, ihr Abgott und Abbild, schließlich ist Erleuchtung das edelste Beste, das sie in einem anderen erkennen und in sich selbst vermissen. Und ganz nach dem Motto: „Was du siehst, ist das, was du bekommst!“ bleibt es das Absehbare, das die Absicht versüßt. Der Unerleuchtete weiß, was er sich einhandelt, und sein Idol weiß, dass es ihn nicht enttäuschen wird; denn auf Täuschung basiert der Austausch beider Parteien. Niemand will hinter die Fassade sehen, denn dort würde man nur seiner eigenen Hybris ins Antlitz blicken. Da jedoch solcherart Selbsterkenntnis im wahren Sinne des Wortes enttäuschend wäre, erkennt man sich lieber im bestätigten Vorurteil wieder.

Je einfältiger der Kandidat, desto greifbarer seine Erleuchtung.
Im Grunde ein trauriges Spiel, das hier ausgetragen wird; ein Spiel, bei dem man Lebenszeit wie Lebenskraft verplempert und an dessen Ende, obwohl zwar alle verlieren werden, sich ein jeder trotzdem als Gewinner fühlen wird. Eine derart verrückte Charade ist nicht ohne Magie; es ist die Magie der Selbstverzauberung, um nicht zu sagen der Selbstverwirrung. In jedem Fall ist es ein Verwirrspiel, bei dem die Schönheit der Logik bereits in seinem Anfang der hässlichen Dummheit unterlag. Denn wie kann ich, um ein Beispiel zu geben, beurteilen, ob das Haus, das ich bauen möchte, auch trägt, wenn ich von Statik keine Ahnung habe? Ich würde mir jedenfalls, sofern es sich nicht gerade um eine Blockhütte handelt, die Mühe des Aufbaus ersparen und mich nicht auf meine ahnungslose Einschätzung verlassen. Im spirituellen Bereich geschieht dies dagegen tagtäglich. Da kann jeder Windbeutel auf Seelenfang gehen und wird mit vollen Netzen heimkehren. Hier vertrauen wir unsere Seele Schwätzern, Neurotikern und Psychotikern an – wobei die Schwätzer noch am harmlosesten sind –, nur von unserer Hoffnung gelenkt, der andere möge das besitzen, was wir begehren, nämlich Erleuchtung. Dabei denken wir nicht für fünf Cent nach, dass wir uns nur das abholen, was wir uns zuvor selbst konstruiert haben, und dass wir nicht wissen können, ob unser Konstrukt überhaupt etwas mit dem zu tun hat, was wir meinen. Solange wir unerleuchtet sind, können wir nicht wissen, was Erleuchtung ist. Was wir wissen, haben wir uns einreden lassen, haben es aus mehr oder minder klugen Büchern herausgelesen, aber wir haben es nicht bekommen, haben die Transformation nicht durchlebt.

Wieso aber stellen wir uns trotzdem hin und sagen, Herr oder Frau Guru sei erleuchtet? Weil es andere taten, und wir ihnen nicht nachstehen wollen? Weil der oder die Guru so schön reden, dass wir meinen, mit ihnen im Paradies zu sein? Oder weil wir einfältige Tröpfe sind, die in kindlichem Trotz etwas haben wollen, von dem wir gar nicht wissen, dass wir es nicht wissen? Letzteres ist nicht nur hinsichtlich unserer psychischen Gesundheit bedenklich, sondern auch in geistig ästhetischem Sinn eine Selbstverkrüppelung. Zu wissen, dass man nicht weiß, hat bekanntlich etwas vom Glanz sokratischer Weisheit. Aber nicht zu wissen, dass man nicht weiß, ist glanzlose Dummheit und wahrhaft unerleuchtet! In solcher Dunkelheit wird Eros kastriert. Die chymische Hochzeit, die göttliche Vermählung, fällt mangels Potenz aus. Da stirbt auch die selbstlose himmlische Liebe, Agape genannt, die religiös motivierte Sexophobiker gerne in Gegensatz zum Eros setzen, obwohl sie doch nur sein edler Aspekt ist. Wie auch soll die himmlische Liebe, die offenbarte Gnade ist, sich einem verschlossenen Herzen zu erkennen geben? Ein Herz, das sich durch das vermeintliche Wissen um die Erleuchtung selbst verschlossen hat. Da mag sich die Agape noch so mühen, dieses Herz zu erleuchten, ihr Leuchten wird von dünkelhafter Umnachtung verschluckt.

Wie auch sollte sich Erleuchtung oder Glückseligkeit einstellen, wenn der Unerleuchtete nur seinen eigenen Wahnwitz bei seinem Guru abzuholen vermag? Des einen Vorstellung ist des anderen Erleuchtung. Selbst wenn es der Zufall wollte, dass der ausgewählte Guru tatsächlich erleuchtet wäre, könnte der Funke nicht überspringen. Denn der Code bliebe unverstanden. Das Geheimnis könnte nicht entschlüsselt werden, da der Adept notwendigerweise aus seiner Unzulänglichkeit heraus etwas anderes in seinem Meister sieht, als dieser ist. Es bliebe eine unfruchtbare Begegnung, aus der nicht einmal ein abschattiges Pflänzlein hervorginge, denn ein solches besäße zumindest eine innere Ahnung vom Licht, sodass es sich ihm zuwenden könnte. Allerdings hegt ein solches Pflänzlein auch keine Vorstellung von Erleuchtung, weswegen es überhaupt erst imstande ist, dem Licht zu folgen.